Es ist Weltmeisterschaft in Südafrika, es ist wieder Zeit für unreflektierte Deutschtümelei, impliziten Nationalismus, hegemonial abgesicherte Diskurshoheit über Rassismus, Nationalsozialismus und Exotismus (siehe Fußballkommentator_innen und -moderator_innen Müller-Hohenstein, Béla Réthy und Günter Netzer). Kritik ist nicht erlaubt oder vollkommen überzogen. Der/die gemeine Deutsche kämpft für sein/ihr Recht auf Selbstbestimmung sondergleichen. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich kotzen könnte ob so viel Borniertheit und mangelnder Selbstreflektion.
Doch genug der Wut und zunächst ein kurzer biografischer Rückblick: Ich bin Deutsche, in Deutschland geboren, meine Eltern, Großeltern und Urgroßeltern ebenso. Soweit mir bekannt ist, habe ich also keinen Migrationshintergrund und gehöre somit ganz selbstverständlich zur weiß-deutschen Mehrheitsgesellschaft. Meine Urgroßeltern stützten das Nazi-Regime durch Kriegseinsätze oder Rumsitzen, meine Oma nähte in der Schule Hakenkreuze auf Flaggen oder schmiss sich während russischer Luftangriffe in Schützengräben. Später war mein Opa in der NVA, genoss viele Privilegien, mit der Stasi hatten wir allerdings wenig am Hut (soweit mir bekannt ist). Als die Mauer fiel, war ich vier Jahre alt.
Meine Kindheit war toll, ich wuchs in einer homogenen Kleinstadt auf, wohnte zwei Blöcke neben DEM Asylheim, dass 1992 von Neonazis mit Molotow-Cocktails beschmissen wurde, unter dem Beifall der Bewohner_innen Hoyerswerdas fuhr die Polizei irgendwann die Gastarbeiter_innen aus der Stadt. Ich wunderte mich lediglich, warum ich nicht raus durfte zum Spielen. Bis ich 19 war, verbrachte ich also mein Leben in Hoyerswerda, genoss das Dasein in der unteren Mittelschicht ebenso wie meine Freund_innen. Ich kannte weder People of Colour, noch Homosexuelle oder behinderte Menschen. Ich würde mich im Nachhinein als unsozial und hedonistisch beschreiben, ich hatte ja niemanden, der mich mal zur Seite nahm.
Als ich mit 17 das FDJ-Hemd meiner Mutter aus dem Schrank zog und es durch die Stadt spazieren fuhr, lächelten mich alle an. Als Mutti von der Arbeit kam, ermahnte sie mich gleich, dass das verboten sei. Verfassungsfeindliche Organisation. Ich war völlig von den Socken. Die DDR kannte ich bis dato nur als romantisierten Teil deutscher Geschichte. Meinem Opa gefiel das gar nicht, dass die FDJ so schlimm sein sollte wie die HJ. Geht ja gar nicht. Irgendwie. Dasselbe meinte auch ein späterer Kommilitone, als wir uns im Seminar Öffentlichkeitsarbeit Werbefilme beider „Organisationen“ anschauten und irgendwie keine Unterschiede feststellen konnten.
Bis heute weiß ich so gut wie nichts über das Leben im Realsozialismus, erstaune immer wieder bei Meldungen über Zwangsadoptionen, Repressionen oder die Todesstrafe, reflektiere in regelmäßigen Abständen mit Freunden über „damals“ und warum es trotzdem völlig dämlich ist, von Unrechtsstaat zu sprechen. Meine Eltern hüllen sich in Schweigen, loben das sozialstaatliche und die vielen Kindergärten, wollen dennoch nicht zurück, weil es ihnen heute besser geht. Meine Großeltern nörgeln über niedrige Renten und damit haben sie zumindest für Ostrenter in vielen Teilen Recht. Allerdings nicht, die, die schon zu Ostzeiten Rente bezogen, in der NVA tätig waren oder im Bergbau. Die müssen sogar Steuern zahlen auf ihre Rente und darüber regen sich diese dann wieder auf. Der Mensch ist nie zufrieden.
In der Schule lernte ich wenig über die DDR, eine kleine Chronik bekam ich vorgesetzt, beim Mauerfall war dann Abitur-Prüfung. Hitler konnte ich irgendwann im Schlaf, schrieb eine Hausarbeit über Sprache im Nationalsozialismus, schaute mir die Guido-Knopp-Reihe an, um seine Körpersprache zu deuten und interpretierte eine Goebbels-Rede zur Bücherverbrennung. Wir lasen Einschätzungen von Historikern über Kriegsschuld. Ich fand gut, dass es einige gab, die auch den anderen ehemaligen Imperialmächten eine Mitschuld durch Appeasement-Politik zusprachen. Bis heute kann ich nicht sagen, warum ich das gut fand, wahrscheinlich war mir das andere zu eintönig. Apropos Imperialismus: Wir mussten auswendig lernen, wer welche Gebiete besetzte, Deutschlands Rolle dabei wurde eher so ein bisschen relativiert. Ich wusste wenig über Kolonialismus und Rassismus, Sklaverei musste mein Englisch-Leistungskurs mit „Onkel Toms Hütte“ übernehmen. Oder so. Bis heute erinnere ich mich nicht mehr, warum die Biolehrerin uns eurasische und nigride Homo sapiens zeigte. Darwin wurde auch schon mal kritischer rezipiert.
Auf einem Schulausflug nach England, begrüßten uns die einheimischen Jugendlichen mit Hitlergruß, wiederum andere bezeichneten uns als Nazis und wiederum ganz andere stolzierten mit SS-Outfits durch die Straßen. Fasching war wohl nicht. In Dubai musste ich mir von Einheimischen Hitler-Honig um den Mund schmieren lassen. BMW, Mercedes und Hitler. Das ist deutsch. Das ist toll. Juden sind eh doof. Sagen konnte ich dazu nichts. Das wäre unhöflich gewesen und außerdem: Frau, Dubai, klingelt’s?
Mit meinem Umzug nach Berlin vor drei Jahren wurde ich eine multikulturelle Stadt geschmissen, die bis heute kaum Platz lässt für Xenophobie (umso erschreckender, falls es doch der Fall ist), ich musste mir meine latente Ausländerfeindlichkeit abgewöhnen, ich musste mir mein Unbehagen gegen Schwarze abgewöhnen, ich musste lernen, dass die Welt nicht einfach funktioniert und ziemlich verwirrend sein kann. Ich musste Fremdheitsgefühle erleben, die ich bis dato nicht kannte, meine Identität, Herkunft, sozialer Status, meine privilegierte Stellung in der Gesellschaft hat Berlin radikal in Frage gestellt. Bis heute habe ich nichts von meiner privilegierten Stellung verloren, ich bin immernoch weiß und immernoch deutsch. Mein sozialer Stand ist soweit akzeptabel, dass ich mir ein bezahltes Studium und einen regelmäßigen Kaufrausch leisten kann. Das einzige, was sich verändert hat: dass ich diesen Text hier so schreiben kann, wie ich ihn gerade schreibe.
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Die WM 2006 war eine Zeit, in der wir in den Halbzeitpausen für die anstehende Matheprüfung lernten, die deutsche Flagge am Fensterbrett hissten, im Autokorso mitfuhren, Nazis uns ihr Bier entgegen streckten (nach dem Argentinien-Sieg) oder uns gern die Fresse poliert hätten (nach dem Sieg gegen die polnische Mannschaft). Ich bebte während den deutschen Spielen, der Adrenalinausstoß war unglaublich und als Jens Lehmann den entscheidenden Elfer im Viertelfinale gegen Argentinien hielt, rissen wir fast die Lampe von der Decke. Das Halbfinale verbrachte ich auf der Fanmeile in Berlin. Ich hielt mich noch nie unter Massen von Menschen auf, schon gar nicht in schwarz-rot-goldenen Fahnenmeeren. Die WM 2006 hat mich bewegt, noch Wochen später entdeckte ich lächelnde Gesichter in der U-Bahn und blieb regungslos vor der unscheinbaren Outdoor-Fotogalerie im Regierungsviertel stehen.
Bis zur aktuellen WM in Südafrika bin ich dieses Gefühl und dieses Erlebnis immer wieder im Kopf durchgegangen. Weil ich wissen wollte, was es ist, was diese Euphorie auslösen kann, was dieses Gemeinschaftsgefühl bewirkt. Immer habe ich nach etwas gesucht, was nicht national konnotiert wäre…ergebnislos. Ich musste mir eingestehen, dass diese Euphorie keinen weiteren Grund hatte außer das schwarz-rot-goldene Fahnenmeer. Zusammengehörigkeit definiert über Nationalfarben, Nationalität, mein Deutschsein. Ich kam zu dem Schluss, dass die Suche nach Inhalten vermeintlicher deutscher Leitkultur im Fußball und im Nationalismus mündet und war enttäuscht.
Trotzdem beschäftigt mich weiterhin, warum es vielen Deutschen offenbar ein auf der Seele brennendes Bedürfnis ist Farbe zu bekennen in diesen Tagen, warum dieses halb verdurstete Suchen nach einem letzten Fleck Gemeinschaft nun bei der WM 2010 endlich gestillt wird, warum sich Gemeinschaftsgefühl überhaupt über Nationalität definiert und warum so viele Deutsche pekiert sind, wenn ihnen dieser Wunsch „auch noch zur WM“ verwehrt werden soll durch die politisch Korrekten.
Meine Euphorie hält sich dieses Mal sehr in Grenzen, die Flaggen finde ich beinahe bedrohlich, ich sehe nur noch besoffene und grölende Vollpfosten und genau so viele spießige Fans, die sich verschämt die Farben auf die linke und rechte Wange gemalt haben, weil mehr muss nicht ja nicht sein. Weniger ist manchmal mehr, würde ich sagen. Ich habe neuerdings Angst, wenn ich abends nach Hause laufe (leider zu Recht, wie die letzten Tage bewiesen), Freund_innen von mir reden von einem veränderten lantent fremdenfeindlichen und rassistischen Klima, auch sie fühlen sich bedroht. Ja, es ist in der Tat ein Angstklima, natürlich nicht bei der Mehrheitsgesellschaft, denn die guckt ja gemeinschaftlich Fußball. Es lässt sich nicht genau fassen, aber in weißen Deutschen ohne Migrationserfahrung schlummert wohl etwas, das spätestens alle zwei bis vier Jahre zum Leben erweckt wird. Wahrhaben oder einordnen wollen das die wenigsten, nicht mal die, die ich sonst für kritisch gehalten habe.
Dabei muss ich anhand der bereits skizzierten biografischen Fetzen eingestehen, dass ich das durchaus nachvollziehen kann. Es gibt Menschen in meinem Bekanntenkreis, die wollen sich „nicht mehr entschuldigen müssen“ für den Holocaust, die Israel kritisieren wollen, ohne als antisemitisch zu gelten, die nicht mehr über Hitler reden wollen, Begriffe so verwenden, wie es ihnen beliebt, weil sie ja die Guten sind. Tolerant sind. Nichts gegen Andere haben. Nur witzig sein. Das wollen sie alle. Ich halte diese Einstellung für legitim, ich halte Nationalfarben für legitim, ich halte den Genuss von Privilegien für legitim – mit sonderlicher Reflektiertheit, politischer Sensibilisierung und kritischer Denke hat das aber nichts zu tun.
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Weiße Mehrheitsdeutsche sind traumatisiert, deutsche Geschichte ist nicht mehr und nicht weniger als zerrissen, besonders in Anbetracht der vergangenen zwei Jahrhunderte. Die Kriege sind ein Katzensprung her, Kolonialrassismus wurde nie aufgearbeitet, die DDR-Geschichte wird es wohl nie sein, bis ich sterbe. Der Diskurs über Deutschsein, Deutschfühlen und Deutschland ist noch immer bestimmt von großer Schuld und Schuldzuweisung, von defizitärem Humanismus. Ich fühle mich schlecht, wenn ich im Informationszentrum des Holocaust-Mahnmals in die Gesichter kopfschüttelnder Touristen blicke. Doch um Schuld und Defizite geht es nicht. Und auch nicht um Verbote und Maulkörbe. Ein „innerer Reichsparteitag“ ist nur deshalb ein Politikum, weil es Menschen gibt, die diese Worte völlig unreflektiert vor Millionen von Menschen äußern, Kritiker_innen eine Distanzierung von der NS-Zeit verlangen und Kritiker_innenkritiker_innen für sich eine Diskurshoheit über Nationalismus, NS-Zeit, Faschismus beanspruchen.
Verantwortungsbewusstes Handeln statt Schuldzuweisungen, weder Gut/Böse, sondern reflexives und reflektiertes Wissen über die eigene Geschichte, ein Nationalbewusstsein schaffen. Heißt: Sich bewusst zu werden über die Gesellschaft, über die Systeme, über Vorgänge, Praxen und Diskurse, Repräsentationen, Kategorien und Identitäten, Symbole und Artefakte, die Deutschland bestimmen und bestimmt haben, sich eine eigene kritische und selbstkritische Meinung zu Thema Deutsch zu bilden, sensibel und bewusst damit umgehen, mit diesem angeborenen oder erworbenen Deutschsein. Nur dann ist imho die Schuld ad acta gelegt und die Verantwortung an ihre Stelle getreten. Und nur dann, können die, die sich gerade irgendwie angesprochen fühlen, deutsche Geschichte als einen Teil ihrer Identität annehmen, statt wegzustoßen und zu verdrängen, aus der Opferrolle heraustreten und sich selbstbewusst innerhalb der nationalstaatlichen Grenzen bewegen, ohne dafür zu Recht kritisiert zu werden.
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