Gerechtigkeit ist einer der wesentlichsten und zentralsten Begriffe des gesellschaftlichen Zusammenlebens und des menschlichen Miteinanders. Als Grundnorm ist er daher in den Rechtssprechungen und Gesetzgebungen aller Staaten zu finden. Gleichzeitig dient Gerechtigkeit als Bewertungsmaßstab sozialer Verhältnisse und bestimmt den moralischen Wert von Handlungen, Ereignissen und Prozessen.
Gerechtigkeitstheorien beschäftigen sich seit der Antike mit der systematischen Bestimmung des Begriffs und wie Gerechtigkeit normativ hergestellt werden kann. Es geht hauptsächlich um einen angemessenen, unparteilichen und einforderbaren Ausgleich der Interessen und der Verteilung von Gütern und Chancen zwischen den beteiligten Personen oder Gruppen. Ungerechtigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang eine Benachteiligung von bestimmten Personen oder Gruppen in der Verteilung von Ressourcen und Chancengerechtigkeit. Eine Geltendmachung von Interessen kann es unter ungerechten Bedingungen nur partiell geben oder ist einseitig charakterisiert.
Für die Politikwissenschaftlerin und Gerechtigkeitstheoretikerin Iris Marion Young greift diese Definition von Gerechtigkeit allerdings zu kurz. In „Fünf Formen der Unterdrückung“ plädiert sie deshalb für eine „überzeugende Konzeption von Gerechtigkeit“, die auch die „Entwicklung und Ausübung individueller Fähigkeiten“ berücksichtigt sowie für Gerechtigkeit als Grundlage und Handlungsmaxime „notwendiger institutioneller Bedingungen“, die eine „kollektive Kommunikation und Kooperation“ zwischen beteiligten Personen und Gruppen ermöglicht. Für Young steht Ungerechtigkeit allein deshalb im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen, weil sie mittels Unterdrückung und Herrschaft eben diese von ihr definierte Gerechtigkeit verhindert.
Wie bereits skizziert, geht es in der Gerechtigkeitstheorie vorrangig um Verteilungsprozesse, die Young ebenfalls um Entscheidungsprozesse, Arbeitsteilung und Kultur erweitert wissen will. Unterdrückung spielt in diesem Kontext die Rolle des Bremsers, sie stellt Ungerechtigkeit her und verhindert damit nach Young die Entwicklung und Ausübung von Fähigkeiten einzelner Individuuen und Gruppen, schließt sie von Entscheidungs- und Verteilungsprozessen aus, beeinträchtigt, gefährdet oder zerstört die gelebte Kultur der Unterdrückten und weist ihnen im Arbeitsleben eine untergeordnete Rolle zu, in denen sie unfähig sind, ihre Situation eigenständig zu verändern.
Nach den mittlerweile zumindest im deutschsprachigen Raum üblichen Diversity-Merkmalen benennt Young die Differenzlinien, die Gründe für Unterdrückung sein können (Alter, Geschlecht, sexuelle Identität, Race/ethnische Herkunft, Behinderung und Religion), fügt allerdings noch Klasse hinzu. Den Menschen, die eines oder mehrere dieser Merkmale aufweisen, sind potenziell gefährdet, unterdrückt zu werden und sehen sich daher einer ungerechten Behandlung ausgesetzt. Ihnen ist also das Leid der Unterdrückung gemein, das sie teilen. Mit dieser Erkenntnis von gemeinsamer Erfahrung von Unterdrückung und Ungerechtigkeit entfernt sich Young von ihren VorgängerInnen, die versuchten „den zentralen Grund jeder Form von Unterdrückung ausfindig zu machen“, was für sie zwangsweise scheitern muss und den Diskurs letztlich in eine Richtung lenkte, herauszufinden, wessen Unterdrückung schwerwiegender oder grundsätzlicher ist.
Obwohl Young hier also einen horizontalen Ansatz vom Grad der Unterdrückung für die Individuen und Gruppen anstrebt, ist der gemeinsame Kontext, in dem Unterdrückung stattfindet für sie das Arbeitsleben. Im weiteren Verlauf kritisiert sie zwar die marxistische Theorie hinsichtlich ihrer Reduktion von Herrschaftsmechanismen wie Sexismus und Rassismus auf Effekte der Klassenherrschaft, lässt aber in ihrer Analyse der Unterdrückungsformen immer wieder die Bedeutung der Hierarchien zwischen Personen und Gruppen, die durch das Arbeitsleben zementiert werden, also eine Klassenherrschaft, einfließen. So weit Young den Begriff Gerechtigkeit fassen will, so sehr beschränkt sie sich mit einigen Ausnahmen bei den Unterdrückungsformen Gewalt und Kulturimperialismus auf einen zentralen Kontext und vernachlässigt damit die Repräsentations- und Identitätsebene, und verkürzt zeitgleich die Reichweite der Strukturebene. Für eine möglichst breit gefasste Beschreibung der Wirkung und Wirksamkeit von Unterdrückung und damit einhergehender Ungerechtigkeit, reicht der Kontext Arbeit allerdings nicht aus. Wie Young selbst schon feststellt, sind die von ihr benannten gefährdeten Gruppen nicht alle im selben Ausmaß und auf dieselbe Art und Weise von Unterdrückung betroffen. Hier muss hinzugefügt werden, dass das ebenso für andere gesellschaftliche Bereiche, in denen Ungerechtigkeit herrschen kann, zutrifft. Nicht für alle Menschen spielen Produktions-, respektive Erwerbsarbeit, und Reproduktionsarbeit in gleichem Ausmaß eine Rolle. Unterdrückung konstituiert sich für jeden Menschen, je nach selbstbestimmter oder zugeschriebener Gruppenzugehörigkeit, anders in diversen Kontexten.
Was zu einem nächsten Kritikpunkt an Youngs Text führt, nämlich, welchen Gruppen sie Privilegien zuschreibt und damit diese Gruppen von erlebter Ungerechtigkeit ausklammert. Für Young ist die Identität des weißen, heteronormativen Mannes mittleren Alters, die Person beziehungsweise Gruppe, die kaum Ungerechtigkeitserfahrungen mit anderen Individuuen teilen kann, weil sie qua Gruppenzugehörigkeit bereits alle anderen Gruppen unterdrückt und über Verteilungs- sowie Entwicklungsprozesse bestimmt. Heißt das also im Umkehrschluss, dass diese von Young skizzierte Gruppe Gerechtigkeitsverhältnisse steuern kann, sich demnach per se in einer machtvollen Position sehen kann? Bedeutet die Postulierung von vermeintlich permanenter Privilegierung die Negierung von Unterdrückungserfahrung hinsichtlich dieser Gruppe? Inwiefern unterdrücken Herrschaftsmechanismen und ihre von Young vorgestellten Spielarten Marginalisierung, Ausbeutung, Gewalt, Kulturimperialismus und Machtlosigkeit, privilegierte Gruppen, indem ihnen festgeschriebene Stereotypen und Rollenmuster aufoktroyiert werden und das Privileg somit zum Zwang, also auch einer Machtlosigkeit wird?
Young kann mit ihrer zum Teil stark verkürzten und in ihrer Reichweite begrenzten Analyse all diese Fragen nicht beantworten, die sich während des Lesens ergeben. Eine Gegenüberstellung von quantitativ betrachtet wenigen Unterdrückern und vielen Unterdrückten, die für Young kaum Möglichkeiten haben, sich von ihrer Ungerechtigkeitssituation zu emanzipieren, lässt wenig Raum für ein konstruktives Konzept zielorientierter Handlungsräume und reproduziert darüber hinaus ein von Stereotypen geprägtes Othering, das letztlich gesellschaftliche Realitäten verzerrt darstellt.
Bemerkenswert hingegen ist die Begründung für eine weiter gefasste Definition des Gerechtigkeitsbegriffs mittels einer dezidierten Analyse von Unterdrückungsformen und ihrer Sichtbarmachung als Ungerechtigkeit.
Literatur
Young, Iris Marion (2002): Fünf Formen der Unterdrückung, in: Horn, Christoph/Scarano, Nico (Hrsg.): Philosophie der Gerechtigkeit. Texte von der Antike bis in die Gegenwart, Frankfurt a.M.: 428-445.
[Disclaimer: Dieser Text wurde im Rahmen meines Studiums für das Modul „Politik der Chancengleichheit“ erstellt und ist Teil einer vierteiligen Rezensionenreihe. Ich veröffentliche in unregelmäßigen Abständen Inhalte, die originär meinem Masterabschluss zuträglich sein sollen. Bisher können Sie eine politische Rede zum Staatsbürgerschaftstest und einen Kommentar zu Zweigeschlechtlichkeit lesen und kommentieren.]
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