(Zwei)geschlecht(lichkeit) – biologisch fundiert oder sozial konstruiert?

[edit: Dies ist eine überarbeitete Fassung des Original-Textes vom 24.10.2009]

Geschlechter sind verschieden. Dieser Satz ist zu einem unumstößlichen Faktum unserer Gesellschaft geworden. Doch Gemeinsamkeiten zwischen den Geschlechtern, sowie Unterschiede in den Geschlechtertypen werden bis heute negiert, mehr noch: Eigenschaften des männlichen Geschlechts werden über die des weiblichen Geschlechts gestellt.

Begründet wird die Dichotomie der Geschlechter, die Zuschreibung von Kategorien und Eigenschaften für beide, sowie die Hierarchisierung dieser Zuschreibungen mit naturwissenschaftlichen Befunden und scheinbar natürlichen Gegebenheiten.
Doch Kategorien wurden zu Stereotypen, Stereotypen zu Rollenbildern, die durch Sozialisierung in die Gesellschaft implementiert wurden. Mittlerweile wird die Gesellschaft bestimmt durch ein binäres Geschlechterschema, das Abweichungen als Ausnahme deklariert und/oder diese Abweichungen versucht, wieder im Binären zu subsumieren. Der Normativitätsdruck hinter diesem sich immer wiederholenden Vorgang lässt nur selten eine kritische Hinterfragung zu. Heute bedeutetet für einen Großteil der Gesellschaft das biologische Geschlecht (sex) gleichsam das soziale Geschlecht (gender).

Dabei stützt sich diese Gleichsetzung auf fragwürdige Annahmen. Judith Butler beschreibt in „Gender Trouble“ naturwissenschaftliche Untersuchungen zur Feststellung des anatomischen Geschlechts als kulturell verzerrten Vorgang. [1] Noch vor den Studien wurden die Testpersonen anhand ihrer äußeren Geschlechtsmerkmale den binären Geschlechtsdimensionen zugeordnet, ohne zu wissen, ob es sich tatsächlich um „echte“ Frauen oder Männer handelte. Und wollte man nicht gerade das in den folgenden Untersuchungen herausfinden?
Wie sich herausstellte, hatten die als „Frauen“ kategorisierten Testpersonen keine Eizellenproduktion und die „Männer“ keine Samenzellenproduktion. Es bestand eine „Inkohärenz der Bestandteile für die eindeutige Bestimmung des anatomischen Geschlechts“, so Butler, die das Forscherteam wissentlich ignorierte. Trotzdem fanden die Forscher um Page 1987 das sogenannte Mastergen, das angeblich das anatomische Geschlecht eindeutig bestimme. Obwohl dieses DNA-Stück auf beiden Chromosomenkonstellationen (XX und XY) vorhanden ist, wertet Page es als jeweils aktiv und passiv und ordnet ihm gleichzeitig die Eigenschaften „männlich“ für aktiv und „weiblich“ für passiv zu. Das Mastergen ist also eine Ursache dafür, dass eine biologische Weiblichkeit nicht mehr als die An- oder Abwesenheit der biologischen Männlichkeit darstellt.

Butler will sich jedoch keineswegs darauf festlegen, dass eine einwandfreie anatomische Bestimmung des biologischen Geschlechts unmöglich sei, sie zeigt mit diesem Beispiel lediglich auf, dass sich die Naturwissenschaft durch kulturelle Annahmen über Mann/Frau selbst Grenzen setzt. Der Objektivitätsmythos der Naturwissenschaften bewahrte diese lange vor einer grundlegenden Kritik in Methodik und Theoriebildung. Auch Sigrid Schmitz stellt fest, dass gesellschaftlich-kulturelle Geschlechterverhältnisse häufig die Grundlage für den wissenschaftlichen Betrieb bilden. [2] Oft stehe die Befundlage konträr zur wissenschaftlichen Faktenlage.

Kultur, Sozialisation und Normen leiten sich also keineswegs aus der Biologie ab. Es gilt daher, diese Annahmen und Ableitungen, die aus einer vermeintlich biologisch Perspektive begründet werden und unser Gesellschaftsbild hinsichtlich Geschlechterstereotypen prägen, zu vermeiden und zu dekonstruieren. Wer sich dem normativen Druck der Geschlechterpolarität verwehrt, individuelle Erfahrung mit und über Geschlechter kritisch reflektiert, wird feststellen, dass die Unterschiede innerhalb eines Geschlechts viel größer sind – beispielsweise in Alter, soziale Herkunft, sexuelle Orientierung, Ethnie, Karriere, geografische Zugehörigkeit – als zwischen den Geschlechtern.

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[1] vgl. Butler 2009, 159-165
[2] vgl. Schmitz 2009, 179f.


Literaturnachweis

Butler, Judith (2009): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.

Schmitz, Sigrid (2009): Gender und Diversity treffen auf Naturwissenschaften und Technik, in: Andresen, Sünne/Mechthild Koreuber/Dorothea Lüdke (Hrsg.): Gender und Diversity: Albtraum oder Traumpaar? Wiesbaden: 175-190



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Kommentare

9 Antworten zu „(Zwei)geschlecht(lichkeit) – biologisch fundiert oder sozial konstruiert?“

  1. RC

    Da ich sowieso unheimlich wenig von vielen typischen sozialen Mechanismen in dem halte, was gemeinhin als „die Gesellschaft“ bezeichnet wird, fällt es mir folglich auch extrem leicht nicht viel darauf zu geben, was gern Geschlechtern zugeschrieben wird. Überhaupt denke ich mir, dass sowas getan wird, weil es schlicht am einfachsten ist.

    Gerade beim Gehirn sieht man ja sehr schön, dass es immer ein Produkt dessen ist, wofür es überwiegend genutzt wird. Wer ständig versucht sich in wechselnden Räumlichkeiten zurecht zu finden, wird darin einfach immer und immer besser werden. Training, Übung… Deswegen können viele IQ Tests ja auch nicht wirklich die Messung der Intelligenz eines Menschen sein, denn dann könnte man ja sich ja nicht einfach auf einen solchen Test vorbereiten und plötzlich viel höher abschneiden.

    Fast nichts was gesellschaftlich üblich ist, entstand ja auf einem wissenschaftlichen/intellektuellen Weg, sondern tauchte auf und wurde dann immer aus Tradition weitergegeben und beibehalten. Macht der Gewohnheit. Das dabei nichts tolles herauskommen kann, ist ja quasi vorprogrammiert.
    Ist natürlich alles nur Ergebnis meiner Beobachtungen. :D

    Alles in allem hat mich der Text sehr an etwas erinnert, was ich kürzlich erst gelesen habe.

    In one, scientists dressed newborns in gender-neutral clothes and misled adults about their sex. The adults described the „boys“ (actually girls) as angry or distressed more often than did adults who thought they were observing girls, and described the „girls“ (actually boys) as happy and socially engaged more than adults who knew the babies were boys. Dozens of such disguised-gender experiments have shown that adults perceive baby boys and girls differently, seeing identical behavior through a gender-tinted lens.

    http://www.newsweek.com/id/214834

    Bestätigt meine Vorurteile natürlich gänzlich, dass man Menschen nur sagen muss es handle sich um Jungen/Mädchen und bekommt dann auch vermeintlich typisches Verhalten geschildert, auch wenn es sich in Wahrheit um das genau andere Geschlecht handelte.
    Ich kann mir auch die Reaktionen der Testpersonen gut vorstellen, die bei Auflösung ja garantiert irgendwelche Ausreden anbringen, statt einzusehen das es Bullshit war, zu meinen das ein bestimmtes Merkmal auch immer beim jeweiligen Geschlecht auftauchen würde.

  2. RC

    Ich würde in Erwägung ziehen, „Master-Gen“ statt „Mastergen“ zu schreiben. Ich glaube das es so einfacher lesbar wird. Mein Gehirn hat jedenfalls 2 Sekunden gebraucht es richtig zu verstehen.

    Aktuell kommt jetzt gerade so in die Mainstream-Medien rein, dass es in den letzten Jahren immer mehr zu einer Art (biologischer) Verweiblichung [1] kommt, vermutlich ausgelöst u.a. von „unserer“ schlechten Ernährung.
    Es wäre bestimmt spannend hier noch heraus zu arbeiten, in welchem Bezug man das zu den Erkenntnissen sehen kann, über die du schon in deinem bisherigen Text berichtet hast. Immerhin muss die scheinbare biologische Verweiblichung der Menschheit mindestens irgendwann eine Auswirkung darauf haben, wie Geschlechter kategorisiert werden können.

    Aber ich sehe gerade du hast den Satz weggemacht Feedback zu wollen. Ich hoffe mal das nicht mein erster Kommentar daran Schuld ist, dass dir jetzt die Lust auf Rückmeldungen nachhaltig vergangen ist. :D

    [1]

    Die Welt wird weiblicher

    http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/31107

  3. lieber rc,

    mach dir keine sorgen. ich habe dein feedback aufmerksam gelesen und bedanke mich hiermit.

    dein sz-magazin-text lässt mich schon nach den ersten 4 absätzen aufhorchen. hier wird geschlecht (natürlich nur männlich/weiblich) wieder anhand der äußeren merkmale festgelegt. noch absurder: bei welchem kind die männliche entwicklung in den ersten sechs wochen der schwangerschaft gestört wird, wird verweiblicht. ein nicht vollständig männliches kind ist also ein verweiblichtes kind. und wo haben in diesem kontext trans* und intersexuelle platz? oder sind das nur genetisch verweiblichte männer? die sprache des artikels klingt sehr unheilvoll. stört mich.

    wir haben hier also eine gleichsetzung verweiblichung = ende der menschheit, definition der verweiblichung über das „fehlen“ des männlichen. also im fokus liegt der mann. zu guter letzt wieder unklare definition, was frau/mann ist und warum diese zuschreibungen so generalisierend getroffen werden.

    ich werd mir bei gelegenheit mal alles durchlesen und noch einmal urteilen.

    PS: Master-Gen wird geändert, aber es ist leider die korrekte Schreibweise, weil Eigenname. Ansonsten alles gut soweit? :)

  4. RC

    wir haben hier also eine gleichsetzung verweiblichung = ende der menschheit

    Ich verstehe das jetzt nur so, dass der gegenwärtige „Trend“ zum zeugungsunfähigen Mann höchstwahrscheinlich zu Problemen führen wird, ich glaube nicht, dass es als eine Art Seitenhieb gedacht war.

    PS: Master-Gen wird geändert, aber es ist leider die korrekte Schreibweise, weil Eigenname.

    Oh? Dann doch bitte nicht ändern, wenn es doch richtig war… Wusste ich nicht.

  5. Naja, der artikel hat aber einen eindeutigen tenor. immerhin spricht man hier nicht von einer zunehmenden zeugungsunfähigkeit, sondern von einer zunehmenden verweiblichung. und die meisten menschen haben eben nicht wie du die fähigkeit zur differenzierung und bei ihnen ist das voll drin – diese konstruktion von geschlecht auf alles mögliche.

  6. florian

    vielleicht aus biologischer und ethischer perspektive hierzu lesenswert:

    http://schwule-seite.de/poitics_geschlecht_sport_mensch.html

    der gleiche autor (biologe) veröffentlicht wohl in kürze auch seine dissertation: „Making Sex Revisited: Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive“

  7. vielen dank florian für den link. sehr sehr gut. das sollte man fett promoten. bis heute ringt sich die biologie nicht zu einem neuen erkenntnisstand durch. seit 1987 wird die mastergen-these überall verbreitet.

    anders lautende berichte, erkenntnisse, studien, die nicht immer aus der (feministischen) geschlechterforschung kommen, werden wohl „versehentlich“ in den papierkorb geworfen…

  8. und nun gibts das buch auch:

    http://www.transcript-verlag.de/ts1329/ts1329.php

    vielleicht passiert ja doch was selbst in der biologie und wir müssen mal schauen, wie wir da progressivere leute unterstützen können?!! ein erkenntnisbeitrag kann ja schon sein, dass eben biologie nicht mehr als „unumstößlich“ wahrgenommen wird, sondern dass sie endlich auch als teil der gesellschaft betrachtet wird, der sich – wie alles andere in gesellschaft – auch ändern lässt…

  9. […] Dank an Florian für den Hinweis. […]

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