Im migrationspolitischen Entwicklungsland BRD blieben Rassismus und Einwanderung bis Anfang der 1990er Jahre nicht nur in der staatlichen Politik, sondern auch in der medialen Öffentlichkeit weitgehend tabuisierte Fremdwörter. […] Die Diskussion zur multikulturellen Gesellschaft blieben bis vor wenigen Jahren ein rein deutscher Mehrheitsdiskurs, der ohne die genuine Mitsprache von Migrantinnen und Migrantien auskam. Entgegen dem eigenen Anspruch war die Debatte um Multikulturalismus durch die dominanten Perspektiven seiner weißen deutschen Protagonisten stark monokulturell verankert, sodass migrantische Subjekte wie üblich als Objekte behandelt wurden und entsprechend ihrer gesellschaftlichen Stellung marginalisiert blieben.
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Im multikulturalistischen Diskurs werden MigrantInnen schon dadurch in eine randständige Minderheitenposition gedrängt, dass ihre komplexe Heterogenität und diversifizierten Perspektiven ignoriert werden und ihnen – wenn überhaupt – nur Raum für singuläre Repräsentationsformen zugestanden wird. Eine selektive Einbeziehung von MigrantInnen in Form von isolierten Einzelstimmen fungiert oft als billiges Alibi für den guten eigenen Willen und wird so zur Inszenierung der deutschen Toleranz instrumentalisiert.
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Auch die Gastarbeiterpolitik in der Bundesrepublik basierte stark auf politischen Leitlinien, die in der wilhelminischen Kolonialzeit eingeführt wurden. Dazu gehörte das Konzept, Migrantinnen und Migranten als „industrielle Reservearmee“ zu instrumentalisieren und ihnen nur eingeschränkte Rechte einzuräumen. Eine solche diskriminierende Politik, die den Zugewanderten meist nur die unvermittelbaren, schlecht bezahlten und gesundheitlich belastenden Arbeitsplätze in der unteren Betriebshierarchie zuwies, sollte einerseits nationalökonomisches Wachstum fördern und andererseits, zugunsten der deutschen Stammbelegschaft das Rotationsprinzip durchsetzen: Hans Filbinger, der durch seine NS-Vergangenheit belastete damalige Ministerpräsident Baden-Württembergs, charakterisierte dieses System in den 1970er Jahren ganz affirmativ als „rotierenden Ex- und Import jeweils ‚junger frischer‘ Gastarbeiter“. Nach Schätzung des Soziologen Friedrich Heckmann führten die intendierten sozialimperialistischen Auswirkungen zur ethnischen Unterschichtung der migrantischen Bevölkerung und ermöglichten auf diese Weise den sozialen Aufstieg von bis zu 2,7 Millionen weißen Deutschen.“
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Angefeuert durch islamophobe Feindbilder entbrannte auch der ideologische Streit um die multikulturelle Gesellschaft von Neuem und wurde in hohem Grade unsachlich weitergeführt. In vielen medialen Inszenierungen transformierte sich die BRD retrospektiv zu einer unwirklichen Gesellschaft, die jahrzehntelang unbeirrt multikulturelle Konzepte gefördert hätte und nun vom Scheitern ihrer nachsichtigen Politik geschockt sei. Tatsächlich stand es jedoch niemals zur Debatte, bundesweit multikulturelle Programme einzuführen. Bis auf vereinzelte kommunale Projekte […] blieb die multikulturelle Politik lediglich eine Chimäre.
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Auch die jüngsten Lippenbekenntnisse des im Juli 2007 vorgestellten Nationalen Integrationsplans ändern daran wenig. Dieser Plan setzt maßgeblich auf die erzwungen Integrationskurse, die die konstruierte deutsche Leitkultur als gesellschaftliche Norm festschreiben und universelle politische Werte als „westlich“ monopolisieren. Um die eigene Überlegenheit zu behaupten, werden Menschen mit außereuropäischem Rechtsstatus – also in erster Linie postkoloniale People of Color und Muslime – generell als politisch potenziell gefährlich und kulturell defizitär definiert.
aus Nghi Ha, Kien (2009): The White German’s Burden – Multikulturalismus und Migrationspolitik aus postkolonialer Perspektive, in: Hess/Binder/Moser (Hg.): No integration?! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte
in Europa, Bielefeld: transcript, 51-72.
Kien Nghi Ha ist Politik- und Kulturwissenschaftler mit den Arbeitsschwerpunkten postkoloniale Kritik, Migration, Rassismus und Cultural Studies. Nachfolgend findet ihr eine Bibliografie mit Monographien und Beiträgen in anderen Publikationen. Darunter frei zugängliche Texte und Artikel von und mit dem Autor.
- Nghi Ha, Kien (1999): Ethnizität und Migration; Einstiege: Grundbegriffe der Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie, Bd. 9, Münster: Westfälisches Dampfboot. Überarb. und erw. Neuausgabe (2004): Ethnizität und Migration Reloaded. Kulturelle Identität, Differenz und Hybridität im postkolonialen Diskurs, Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin.
- Nghi Ha, Kien (2003): Die kolonialen Muster deutscher Arbeitsmigrationspolitik; In: Gutiérrez Rodriguez, Encarnación/Steyerl, Hito (Hg.): Spricht die Subalterne deutsch? Postkoloniale Kritik und Migration, Münster: Unrast, S. 56-107.
- Nghi Ha, Kien (2005): Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus; Reihe: Cultural Studies, Bd. 11, Bielefeld: transcript. (Vorwort und Einleitung als PDF)
- Ha, Kien Nghi/Schmitz, Markus (2006): Der nationalpädagogische Impetus der deutschen Integrations(dis)kurse im Spiegel postkolonialer Kritik; In: Paul Mecheril/Monika Witsch (Hg.): Cultural Studies und Pädagogik, Bielefeld: transcript, S. 226 – 266.
- Nghi Ha, Kien/Lauré al-Samarai, Nicola/Mysorekar, Sheila (Hg.) (2007): re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, Münster: Unrast. (Inhalts- und Autor_innenverzeichnis als PDF)
- Nghi Ha, Kien (2009): The White German’s Burden – Multikulturalismus und Migrationspolitik aus postkolonialer Perspektive, in: Hess, Sabine/Binder, Jana/Moser, Johannes (Hg.): No integration?! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa, Bielefeld: transcript, 51-72. (Inhalt und Einleitungen als PDF)
- Nghi Ha, Kien (Hg.) (2010): Unrein und vermischt. Postkoloniale Grenzgänge durch die Kulturgeschichte der Hybridität und der kolonialen „Rassenbastarde“. Bielefeld: transcript. (Inhalt und Einleitung als PDF)
- Zertifikat Deutsch: Integrationskurse als koloniale Praxis (PDF)
- Ethnizität, Differenz und Hybridität in der Migration: Eine postkoloniale Perspektive
- Kulturproduktion von Minderheiten zwischen Ethnisierung und Politik
- Verschleppte Geschichten: Arbeitsmigrationspolitik und koloniale Einschreibungen
- „Integration“ als Disziplinierungs- und Normalisierungsinstrument – Die kolonialisierenden Effekte des deutschen Integrationsregimes (PDF)
- Die Grenze überqueren? – Hybridität als spätkapitalistische Logik der kulturellen Übersetzung und der nationalen Modernisierung.
- „Integration kann nicht verordnet werden“. Ohne gleiche Rechte und Selbstbestimmung keine Integration
- Das Recht nicht dermaßen integriert zu werden – Integrationspolitik und postkoloniale Kritik
- ‚People of Color‘ als Diversity-Ansatz in der antirassistischen Selbstbenennungs- und Identitätspolitik
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