Vom Mythos der „unverdienten“ Privilegien

Ich schrieb vor wenigen Tagen einen sarkastischen Post zu Privilegien, garniert mit ein paar Hashtags (Schlagwörtern), die illustrieren sollen, was an Vorannahmen, die hinter Argumentationen, die für oder gegen eine Auseinandersetzung mit Privilegien sprechen, problematisch ist. Da der Post sehr dicht ist und sich vielleicht nur jene angesprochen fühlen, die sich schon länger über die Thematik Gedanken machen, möchte ich nun eine Sache aufgreifen: Die Idee, dass Privilegien „unearned“ (unverdient) sind.

Wenn ich mit Personen ins Gespräch komme oder Texte lese, in denen sich kritisch mit Privilegien auseinandergesetzt wird (nicht im Sinne von: Nein, es gibt sie nicht), ist oft davon die Rede, dass Menschen in privilegierten Positionen „nichts dafür können“ oder nichts aktiv dafür getan haben, dass sie Privilegien besitzen. Bemerkenswerterweise wird dieser Topos oft auch bei jenen ins Spiel gebracht, die keine Notwendigkeit darin sehen, sich kritisch mit ihren eigenen Privilegien auseinander zu setzen.

Peggy McIntosh spricht in ihrem bekannten Artikel zu weißen Privilegien von einem „invisible knapsack“ , einem unsichtbaren Rucksack, den weiße in Bezug auf Rassismus mit sich herumtragen. Der Artikel ist gespickt mit einer Aufzählung, an welchen Stellen diese Privilegien zum Tragen kommen, Bedeutung erlangen. Der Artikel ist sehr handlungsfokussiert, was ich gut finde, allerdings impliziert er, dass durch Unterlassen oder Interventionen in diese Wahrnehmbar-Werdungen von Privilegien diese abgelegt werden können. Die Metapher des Rucksacks impliziert weiterhin, dass Privilegien etwas sind, was ich als weiße Person mein Leben mit mir herumtrage, bis ich mir diese bewusst mache, etwas „dagegen“ tue und so meinen Rucksack (zeit-/phasenweise) absetzen kann. Ebenso problematisch an dieser Metapher ist, dass der Rucksack an Bürde erinnert, etwas, das mir aufgebürdet wird, Privilegien, die „schwer wiegen“, und derer ich mich befreien muss/kann/sollte, um … ja was … eine gute/antirassistisch handelnde weiße Person zu werden? Die Rucksack-Metapher spielt ebenso mit dem Bild des „Unverdienten“ wie mit dem Bild der „schweren Last“ mit dem Ziel eines „Release“, einer Befreiung von Privilegien in Bezug auf antirassistisches Handeln von weißen Personen.

Privilegien werden nicht nur in McIntoshs Text mit Negativität und Unproduktivität (im Sinne von: mein Rucksack erschwert mir ein Vorankommen) be_deutet. Dahinter steckt die Vorstellung eines christlich geprägten Menschenbildes, welches Menschen in gute und schlechte einteilt. Menschen, die sich an bestimmte Vorgaben halten und danach handeln, erleben eine Befreiung ihrer Schuld, sie „sühnen“ nicht nur für ihre eigenen „schlechten“ Taten, sondern auch für die aller anderen. Privilegien kommen hier einer Kollektiv“schuld“ aller weißen gleich. Im Sinne eines „Buße tuns“, also dem Entgegen-Handeln von Privilegien, können sich weiße von dieser „Schuld“ befreien.

Interessant an diesen Be_Deutungen von Privilegien ist weiterhin, dass das Erlangen von Privilegien mit Passivität gleichgesetzt wird. Privilegien werden mir als weiße Person von einer unbekannten, un_personifizierten Instanz (in diesem Falle Rassismus) „aufgebürdet“. Auch hier kommt das „Unverdiente“, das „Nichts dafür können“ in Spiel.

In Teilen postkolonialer Literatur wird sich häufig mit der Metapher des „white men’s burden“ (Die Bürde des weißen Mannes) auseinandergesetzt. Die Bürde des weißen Mannes beschreibt als Metapher den imperialen Gestus hinter kolonialer Gewalt und Expansion und soll verdeutlichen, dass weiße sich im Zuge von Kolonisierung als die „Zivilisierten“, „Kultivierten“, als über die „Gewalt“ der Natur, des „Rohen“ erhabenen, schlicht als die Über-Menschen begreifen. Weiße sahen es als ihre Aufgabe oder eher Bürde an, Menschen, die sie als nicht „zivilisiert“, nicht „kultiviert“, als der Natur nahestende, „rohe“, „barbarische“ Völker konstruierten, die nicht nach ihren Vorstellungen von „Menschsein“ leben zu „zivilisieren“. Mit kolonialer Gewaltherrschaft würde eine Befreiung von dieser „Bürde“ erfolgen. Imperialistisches Bestreben und gewaltvolle Kolonialisierung, Genozid und Unterdrückung anderer wurde von weißen quasi als unabdingbare, unvermeidbare Handlung aus einer „Bürde“ (Passivität) heraus verharmlost und nicht als aktiver, von weißen Allmachtsfantasien und rassistischen Ideologien getriebener Vorgang vorgestellt. Auch heute noch geschehen rassistische Handlungen aus dieser Motivation heraus.

Wenn ich mir als weiße Person Privilegien also als etwas „Unverdientes“, mir „Aufgebürdetes“ vorstelle, dann erneuere ich dieses Bild des Passiven, des „unverdient“ „Schuld“haften. Ich erneuere ein Bild, das weiße Menschen per se als „gute“ Menschen deklariert, auch wenn sie sich ihrer Privilegien nicht bewusst sind, nicht damit in Auseinandersetzung treten. Ich erneuere ein christliches weißes Menschenbild, mit dem koloniale Gewaltherrschaft legitimiert und verharmlost wurde und wird. Privilegien „ablegen“ oder „abgeben“ (an wen?) werden hier zu einer „märtyrerhaften“, altruistischen Handlung.

Rassismus hingegen fungiert weiterhin als ungreifbares, unvorstellbares „Ungetüm“, mit dem ich als weiße Person nichts zu tun habe, das über mir schwebt, wie ein Damokles-Schwert und nur darauf wartet, auf mich herabzusinken, wenn ich nicht schnell genug meine Privilegien bewusst mache und sie ablege. Ich stelle mich nicht vor als aktive Person, die Rassismus immer auch wieder durch Handlungen gewaltvoll normalisiert und reproduziert, die Rassismus nutzt, um voranzukommen und aus Rassismus einen Nutzen, eine Aufwertung, ein Vorankommen erfährt – auf struktureller und ganz individueller Ebene. Ob mit oder ohne Rucksack, ob mit oder ohne antirassistisch(e)(n) (gemeinten) Handlungen.

Rassismus ist ein Konstrukt, das von weißen erfunden wurde, um Menschen ohne „schlechtes Gewissen“ (im Sinne von: keinen Widerspruch zur christlichen „Nächstenliebe“ wahrzunehmen) zu unterdrücken, auszubeuten, zu töten und an ihnen Gewalt auszuüben; ja um aus der Unterdrückung von all jenen, die rassifiziert wurden und werden, einen Nutzen, eine Aufwertung des Selbst zu erfahren und das weiße Selbst mit weißen Privilegien auszustatten.

Rassismus ist eine aktive Handlung, auch dann, wenn Rassismus strukturell wirkt. Rassismus reproduziert sich nicht von „allein“ oder „einfach so“. Es sind immer Menschen, die diese Strukturen aufrecht erhalten, erschaffen oder nicht dagegen ankämpfen. Rassismus wirkt über-individuell. Die häufig verwendeten Be_Deutungen des Privilegien-Begriffs implizieren, dass ich mich als weiße Person durch bestimmte Handlungen von Rassismus befreien kann. Und dass ich Menschen, die von Rassismus betroffen sind, einen Teil meiner Privilegien abgeben könnte, so dass sie „auch was davon haben“. Wie nett von mir.

Doch was passiert nach der Rast, die ich mir vom schweren Rucksack schleppen gegönnt habe aka meine Privilegien abgestreift habe? Ich nehme diesen Rucksack immer mit aka ich als weiße Person profitiere immer von Rassismus, auch wenn ich es nicht will, auch wenn ich aktiv etwas dagegen tue. Und im Gegenteil, er macht mich nicht schwer dieser Rucksack, sondern leicht und erleichtert mein Vorankommen. Ich kann ihn nicht absetzen. Er ist auch nicht ein Teil an mir, sondern von mir. Den Rucksack gibt es nicht.

Wenn ich mir Rassismus als ein Ungetüm, als etwas Nicht-Greifbares und Privilegien als einen „unverdienten“, mir „aufgebürdeten“ Rucksack vorstelle, verleugne ich meine Handlungs- und Definitionsmacht, die ich als weiße Person in Bezug auf Rassismus immer innehabe. Ich konstruiere mich damit auch ein bisschen als Opfer (Opfer werden häufig als unselbstständige, passive Personen ohne Selbstbestimmung vorgestellt) und verharmlose damit nicht nur die Diskriminierung, die Personen erfahren, die von Rassismus betroffen sind (und mache gleichzeitig deren Agency und Subjektstatus unsichtbar), sondern auch Rassismus selbst. Weil Rassismus nicht alle Menschen als Opfer und handlungsunfähig hervorbringt, sondern unterschiedliche Lebens- und Erfahrungswelten, die mit Diskriminierung und Privilegierung verbunden sind.

Es geht nicht um Schuld, es geht nicht um Sühne, es geht nicht um mein schlechtes Gewissen, es geht nicht um Befreiungshandlungen (hier: wer ist dann mein Referenzrahmen für meine Handlungen? Ich als weiße Person) Es geht nicht um „Mit- oder „Reinfühlen“ in rassistische Erfahrungen, in dem ich in gebückter Haltung den Inhalt meines Rucksacks nach und nach entleere und all das „Unverdiente“ aus meinen Leben werfe, weil ich mich danach besser, leichter und weniger rassistisch handelnd fühle. Schon gar nicht geht es um meine weißen Gefühle. Oder um meine Vorannahmen, meine Privilegien könnten für Menschen, die sie nicht haben, stets interessant und begehrenswert sein.

Weiterhin problematisch an dieser Rucksack-Metapher oder den Be_Deutungen von Privilegien genereller ist, dass Personen, die von Rassismus betroffen sind, gar nicht vorkommen. Haben sie auch einen Rucksack? Ist der sichtbar? Können sie den ablegen? Geht es tatsächlich nur um die Abgabe von Privilegien (an wen?) und dann ist alles gut? Rassismus zu Ende? Was sind die Vorstellungen von und vom Kämpfen, antirassistischen Handlungen, Gesellschaftsentwürfe, Utopien von Menschen, die von Rassismus betroffen sind? Können mit dem Privilegienbegriff allein gar nicht erfasst oder in eigenen Handlungen mitgedacht werden. Das Bearbeiten von eigenen Privilegien kann ohne Solidarität, Bündnisse und Zusammenarbeit erfolgen, ohne die Ideen, Gedanken und Handlungen derer, die von Rassismus betroffen sind.

Es geht um Verantwortungsübernahme, wenn ich als weiße Person gegen Rassismus kämpfe. Verantwortung übernehmen heißt zum Beispiel: sich aktiv gegen Rassismus zu stellen, wann immer ich ihn wahrnehme. Auf vielfachen Wegen: in Gesprächen mit Freund_innen, in sozialen und_oder familiarisierten Zusammenhängen, am Arbeitsplatz, in der Uni, in der Ausbildung, in öffentlichen Räumen, in Behörden. Verantwortungsübernahme heißt für mich als weiße Person auch, über Privilegien hinaus zu gehen, Lebensrealitäten, die nicht meine sind, wahrzunehmen, anzuerkennen, zuzuhören, wahrzunehmen, Gespräche oder Zusammenarbeit zu suchen (ohne enttäuscht zu sein, wenn sie aus verschiedenen Gründen verwehrt werden, sondern daraus andere Handlungen abzuleiten), Auseinandersetzungen einzufordern, mich nicht nur für Repräsentation, sondern auch für Partizipation einzusetzen (auch wenn es bedeuten kann, dass ich meinen Platz freimachen muss), Räume zu er_öffnen, eigene Wohlfühl- und Komfortzonen zu verlassen oder aufzugeben, mich nicht von Kritik befreien zu wollen, sondern kritikfähig zu bleiben, Widersprüche und Unwohlsein auszuhalten und versuchen, einen produktiven Umgang damit zu finden, statt zu verharren, dazu zu lernen, mich nicht als „fertige_n“ Antirassist_in zu begreifen. Nicht einfach nur bestimmte Dinge zu „unterlassen“, sondern aktiv Dinge zu tun. Und noch ganz viele andere Sachen, die in einer Privilegien Check List wie der von Peggy McIntosh niemals vorkommen werden oder ich nicht durch Überlegen oder Austausch mit anderen weißen auf den Schirm bekomme.


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Kommentare

Eine Antwort zu „Vom Mythos der „unverdienten“ Privilegien“

  1. […] für Ideen stecken eigentlich hinter der Metapher des “Privilegien-Rucksacks” und was bedeutet es, wenn häufig von den “unverdienten Privilegien” gesprochen wird? […]