irgendwann habe ich angefangen loszulassen. nacheinander die dinge, die mir angst machen, mich unwohl fühlen lassen, mir stress bereiten, mich unter druck setzen, die ich nicht in meinem leben will – gefühle, kontexte, zustände, diskussionen, auseinandersetzungen, kämpfe, personen. weil ich die folgen nicht mehr spüren wollte. panikattacken, angstzustände, unruhe, gestresstsein, körperliche schmerzen.
bevor mein kopf gestreikt hat, hat mein körper mir signalisiert: das ende seiner kapazitäten ist erreicht. aus meiner lebenslangen ignoranz gegenüber meinen körperlichen bedürfnissen ist irgendwann ein ringen geworden, ein permanentes streiten über die deutungshoheit der situation. jetzt sitzen wir oft beieinander und begegnen uns im zwiegespräch. manchmal beäugen wir uns kritisch. er signalisiert mir, wenn er die schnauze voll hat von meinen gedankengängen und überlegungen. ich gebe ihm raum, seine bedenken zu äußern. ich gehe auf seine bedürfnisse ein, wo es mir möglich ist. achte darauf, dass er sich mit mir wohl fühlt, egal, was ich gerade tue und lasse auch manchmal dinge sein, um ihn nicht in unangenehme situationen zu bringen.
das hat mir anfangs sehr viel kraft abverlangt. ständig entscheidungen mit dem kopf für meinen körper zu treffen und nicht mehr aus dem bauch heraus, so wie ich es sonst gewohnt war. zumindest dachte ich lange, es seien bauchentscheidungen, bis ich merkte, dass ein großteil meiner bauchentscheidungen verinnerlichte und normalisierte verhaltensmuster sind, entscheidungsstrukturen, die ich mir im laufe meines lebens angelernt und aufgebaut habe, die ich fast nie hinterfragt habe.
warum tue ich gerade, was ich tue? warum treffe ich die entscheidungen, die ich treffe? obwohl sie folgen nach sich ziehen, die ich gar nicht will? diskussionen, die ich nicht führen möchte? gedanken, die ich nicht denken möchte? gefühle, die ich nicht fühlen möchte? in den vergangenen monaten habe ich gemerkt, dass all diese nicht hinterfragten entscheidungen auch anders getroffen werden können, nach anderen maßstäben. dass ich für diese maßstäbe und veränderungen kraft brauche, ressourcen benötige, die ich schon längst nicht mehr hatte. ich musste geduldig mit mir sein. ich bin so ungeduldig. musste warten, bis sich gedanken nicht nur im kopf festsetzen, sich aber nicht umsetzen lassen, weil sich das gefühl, das unbedingte wollen mit allem, was ich bin, noch nicht eingestellt hat. ich habe gemerkt, dass sich die meisten dinge in meinem leben irgendwann einstellen, jedoch nicht konkret mit handlungen herbeiführen lassen, sich nicht kondensieren auf einen möglichen punkt, sondern nach und nach erfolgen, wenn ich das ziel vor augen habe, den punkt, an dem ich irgendwann sein will und un_bewusst entscheidungen treffe, indem ich zunächst mal andere gefühlswelten zulasse. auf meine bedürfnisse höre und ihnen raum gebe. dazu gehörte auch, meinen körper mehr in mein leben zu lassen, den kopf öfter auszuschalten und sich ganz bewusst abzugrenzen von dingen, die mir nicht gut tun. dinge, von denen ich dachte, sie seien unausweichlich.
öfter das rad zu nehmen, spazieren zu gehen, das notebook nicht aufzuklappen, das handy nicht anzufassen, telefonate nicht zu führen, situationen zu vermeiden. zu mir finden. zu dem, was ich will für mich und mein leben, überhaupt diese suche erst einmal zuzulassen. nicht in leistungen, to-do-listen, aufgabenbereiche und verantwortlichkeiten zu denken. das gefühl aufzugeben, mich rechtfertigen zu müssen für entscheidungen, die ich treffe, gedanken und gefühle, die ich habe.
ein außen zu finden, von dem aus ich mir mein leben anschauen kann und dann nach und nach aussortiere, was dort keinen platz mehr haben soll. zu merken, wovon und von wem ich abhängig bin, was an diesen abhängigkeiten destruktiv ist und verhaltensmuster bedient, die unaufhaltsam in depressionen, angstzuständen und panikattacken münden. scheitern, aufgabe und loslösung in bestimmten punkten für erstrebenswert zu halten.
als leah und ich queer_feminismus geschrieben haben, ging es mir zwar schon etwas besser als noch ein paar wochen zuvor, aber von gut war ich weit entfernt. ich hatte panikattacken, konnte kaum essen und wenn ich aß, lag ich danach mindestens zwei stunden lang mit krassen schmerzen im bett, die mich fast ohnmächtig werden ließen. sie brachte mir dann eine wärmflasche und wir saßen in meinem bett und redeten. über unsere ängste mit diesem buch, über nie geäußerte erwartungshaltungen, die potentielle les_erin_nen haben könnten. es ist ein sehr persönliches buch geworden an vielen stellen. normalerweise schreibe ich persönliche dinge im fluss, die wörter sprudeln heraus, im kopf ist schon alles zu ende gedacht, ich muss nur noch abtippen. bei diesem buch dauerten einzelne sätze stunden, ich quälte mich, hatte stresskopfschmerzen, meine gesichtsmuskeln flackerten vor anspannung. ich fühlte mich wie in meiner masterarbeitsphase. es war der erste abend seit langem, an dem ich nicht ausrechnete, wie viele wörter ich heute noch in das dokument tippen muss, damit alles rechtzeitig fertig wird. nach dem gespräch war ich wieder im fluss und gab das rechnen auf.
bis heute kann ich nicht realisieren, dass ich mir mit dieser buchveröffentlichung einen lebenstraum erfüllt habe. kann die komplimente und wertschätzungen und eindrücke von menschen, die es gelesen haben und denen es viel bedeutet, die sich wiederfinden in den w_orten, die wir schaffen für ihre gedanken, positionen, aushandlungen und identitäten nicht annehmen. denke mir, joa ist halt ein text von mir und uns, der etwas länger geworden ist, als ich üblicherweise blogge. ist ausgesprochen, aufgeschrieben, abgehakt. ein altes schreibmuster von mir. die rezeptionswahrnehmungsmuster sind andere. texte bestimmen mein leben, mein wohlbefinden. der prozess des schreibens nicht. es sei denn, ich muss texte schreiben, auf die ich keine lust habe (eine masterarbeit zum beispiel). eigentlich müsste es umgedreht sein. müsste der prozess des schreibens lustvoll sein, als immer nur ventilfunktion haben. manchmal ist das so. das sind dann texte, die ich gut finde, die ich gerne wieder lese. die mich berühren und emotionen schüren. die mich zum weiterdenken inspirieren. weshalb ich irgendwann das schreiben aufgegeben habe und nach mehr als zwei monaten das erste mal wieder worte tippe, die sich nicht nach „muss jetzt mal schnell erledigt werden“ anfühlen, zu denen ich keinen zugang habe, die mir völlig fremd sind.
weil mein kopf auch irgendwann gestreikt hat und einfach nichts mehr aufnehmen konnte. zum denken nicht fähig war. schon gar nicht zum abstrakten, analytischen denken, zur differenzierung. nicht mal ein text, der aus der antwort auf die frage bestand, wie geht es mir heute, wollte den kopf verlassen. ich konnte nicht mal die frage beantworten. die wochen wurden gleichförmiger, die panikattacken wichen depressiven episoden, in denen mir alles egal war, außer die frage: was kommt danach? was kommt, wenn es mir besser geht? an welchem punkt werde ich sein? wer werde ich sein? womit beschäftige ich mich dann? was wird mich antreiben? auch auf diese fragen hatte ich schlicht keine antworten. ich hatte für wochen den sinn verloren in meinem leben, dachte nur noch daran, wie ich es schaffen kann so zu funktionieren, dass diese grässlichen panikattacken nicht auftauchen. todesangst ist schrecklich. mein leben war durchrationalisiert. hatte mich von komplexen gedanken verabschiedet, von gefühlseinlassungen, von spaß und lebensfreude. hatte das internet ausgestellt, den feedreader missachtet, twitter nach sekunden geschlossen, weil es mich anödete. war nur noch deshalb draußen, weil Bewegung im freien ja gut tun soll und den kopf befreit und den kreislauf in schwung bringt. schwungvoll fühlte ich mich nie bei spaziergängen. nervige dinge tun, damit mein körper zufrieden ist, während mein kopf vor sich hin muckert, im standby verbleibt. wollte an gesprächen nicht teilhaben, war alles anstrengend. konnte dinge nicht genießen, die mir früher spaß bereiteten, ging nicht ans telefon, antwortete nicht auf sms. nötige kommunikation, funktionieren. da sein, ohne anwesend zu sein.
das einzige, was mir in der zeit half, war öfter die stadt zu verlassen, mittlerweile konnte ich das ja wieder halbwegs, ohne mich im permanenten panikmodus zu befinden. nur außerhalb von berlin konnte ich mich, die menschen um mich herum wahrnehmen und annehmen. konnte ihnen zuhören, mich auf sie einlassen und in mich hinein wahrnehmen, was da gerade so unter dem standby modus abgeht. welche themen da sind, die bearbeitet werden wollen. ich konnte aufnehmen und genießen, auch wenn es sich nicht immer leicht anfühlte. danke kassel, bielefeld, göttingen, lohra, dresden, lärz.
neben meiner gesprächs- und körpertherapie hat mir vor allem die zeit in der lesbenberatung geholfen, wieder bei mir anzukommen. ich habe dort wahnsinnig wunderbare menschen kennengelernt, ich habe dort irgendwann verlernt, mich zu verstecken, ich hatte ein umfeld, was mich erstmal nicht kennt und mit dem entspannt, wertschätzend und inspirierend umgeht, wie ich mich in dem moment zeigen konnte. wie politische arbeit auch aussehen kann und was alles an den kleinen dingen, die ich schon seit jahren tue, aber nie wahrgenommen habe, wertvoll ist, um das große drumherum am laufen zu halten. ich habe neue perspektiven kennengelernt und die lust zurückgewonnen, politik zu machen. vielleicht auch ab und zu anders. weg von frustration und dem ständigen gefühl gegen mauern zu rennen. mich abzugrenzen von kämpfen, mich nicht immer so hinein zu begeben, dass ich erstmal auszeiten brauche, um mich zu erholen. mich nicht von ignoranz und unwillen verletzen zu lassen, weil es nur das eine leben ist, was ich habe und nur diesen körper mit seinen begrenzten kapazitäten. ein abwenden als anderen dingen zuwenden zu begreifen. jetzt kann ich lachen über ignoranz und unwillen oder selbst ignorieren. es regt mich nicht mehr auf, es belastet mich nicht mehr, ich weiß, was ich zu erwarten habe und dann kann mich entscheiden. weil ich mir auch die zeit genommen habe, selbstsicher zu werden. auf mich und meine perspektiven zu vertrauen. und den menschen zu vertrauen, die mir das wichtige, kritische und wertschätzende feedback dazu geben.
letztendlich hat alles, was ich getan, gedacht, gefühlt, erlebt, wahrgenommen, entschieden, gesagt, verworfen, abgelehnt, zugelassen habe in letzter zeit prozesse angestoßen und begleitet. auch hier könnte ich nicht sagen: genau das war es, was mir geholfen hat. es war alles. mit dem unterschied, dass ich versucht habe, es bewusst zu tun. im ständigen austausch mit mir, mit anderen, meinem kopf, meinem körper und meinen bedürfnissen.
ein jahr ist seit meiner ersten bewusst erlebten panikattacke vergangen. und es geht mir gut.