Abschaffen und abschaffen lassen.

Wie viele von euch wissen, schlich Sarrazin neulich für ZDF Aspekte durch Kreuzberg und wunderte sich, dass er als Rassist beschimpft und aus Lokalen herauskomplimentiert wurde. Die alevitische Gemeinde verweigerte ihm das Gespräch. Journalistin Güner Balci, die mit ihm durch Kreuzberg zog (aus welchen Gründen auch immer) ließ sich darnieder, Sprecher_innenpositionen und Kontexte auszublenden. Klar, dass das Unmut hervorruft, schlachtet doch die hiesige Presse die hiesigen Ereignisse dafür aus, billiges Migrant_innenbashing zu betreiben und Sarrazins Wunden zu lecken. Nachfolgend veröffentliche ich einen offenen Brief an Güner Balci, der nicht aus meiner Feder stammt, sondern aus Beris:

Liebe Güner,

ich setze mich zur Wehr gegen deine einseitige und abwertende Berichterstattung über den „Besuch“ Sarrazins in Kreuzberg am 12.07.2011 (Kreuzberg schafft sich ab, Morgenpost, 16.07.2011, S.9).
In deinem Artikel schreibst du einleitend von einem „Spaziergang“, einer „lockeren Begegnung“ „ohne großes Aufsehen“, und ich frage mich ernsthaft, wie du dir einen feucht fröhlichen Spaziergang in einem Kiez voller –wie du selbst schreibst- „wütender Migranten“, die sich gegen seine rassistischen[1] Vorwürfe zur Wehr setzen, vorgestellt hast? Was habt ihr von den „Empörten“ erwartet? Offene Arme und/oder ein herzliches Händeschütteln in unterwürfiger Manier? Nein, Güner, manchmal sind Menschen nicht so dumm, wie ihr sie gern haben wollt. Euer „Besuch“ war eine reine Provokation, und ihr wusstet sehr genau, dass sich die Betroffenen verbal zur Wehr setzen würden gegen Sarrazin und gegen sein erfolgreiches Instrument, den Medien, die ihn bei seinem ach so „ganz selbstverständlich[en]“ Besuch auf Schritt und Tritt begleitet haben, um nur das wiederzugeben, was ihm und anscheinend auch dir in den Kram passt (was du übrigens mit deinem polemischen Artikel sehr akkurat unter Beweis gestellt hast, Danke dafür!).

Ja Güner, in einem Punkt stimme ich dir zu: wir KreuzbergerInnen haben uns empört! Wir haben uns nicht instrumentalisieren lassen, weder von Sarrazin noch von den Medien, und werden es auch nicht dir erlauben, über unsere Köpfe hinweg bestehende Vorurteile zu festigen. Wir haben von unserem Grundrecht der freien Meinungsäußerung Gebrauch gemacht. Wir haben uns gemeinsam gegen einen Menschen widersetzt, der seine Bevölkerung nach ökonomischer Leistung und „kultureller“ Herkunft (ab-)bewertet.
Dass der ökonomische Erfolg in einem kapitalistischen System von ungeheurer Bedeutung ist, wissen wir als mündige BürgerInnen mit und ohne Migrationshintergrund sehr genau. Die strukturelle Benachteiligung im Bildungssystem sowie auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt ist ein wichtiger Faktor, der den Menschen im Allgemeinen soziale, kulturelle und politische Partizipation nicht ermöglicht bzw. erschwert.
Wir brauchen keinen Sarrazin, der uns vorschreibt, wie, was und wann wir Essen müssen, damit wir in diesem System überleben können. Wir brauchen keinen Sarrazin, der uns erklären muss wie wir zu leben haben, damit wir dem Staat nicht auf der Tasche sitzen. Wir brauchen keinen Sarrazin, der meint, dass wir unsere Geburtenrate zu kontrollieren haben, weil wir für die Verdummung des Staates verantwortlich seien, weil seiner Meinung nach Intelligenz vererbbar sei, und in seinen Augen nur die Intelligenten das Recht auf Existenz haben. Wir brauchen keinen Sarrazin, der uns erklärt, dass wir, die „Unterschicht“ in diesem kränkelnden System kein Existenzrecht haben. Wir brauchen aber auch keinen Sarrazin, der uns „tabubruchartig“ erklären muss, dass MigrantInnen diesem Staat im Allgemeinen nicht gut tun. Wir brauchen sein Bestsellerbuch nicht, um über unseren Kosten-Nutzen-Faktor zu lesen. Wir sind Menschen, Güner. Keine Zahlen, keine Zahlen. Menschen. Und weil Sarrazin das nicht versteht, haben wir mit unserer Handlung und Haltung ihm zu verstehen gegeben, dass wir in seinem ungleichen und falschen Spiel nicht mitspielen möchten. Was wir brauchen ist Respekt, soziale und ökonomische Gleichberechtigung und politische Partizipation. Nicht mehr, nicht weniger.

Ich spreche hier nicht nur als Deutsche mit dem speziellen Migrationshintergrund, sondern als Kind einer Arbeiterfamilie, wenn du so gütig sein und mir dieses Recht eingestehen kannst, trotz meines Namens, trotz der Herkunft meiner Eltern.

Wir brauchen einen Dialog schreibst du so schön in deinem widersprüchlichen Artikel. Ein Dialog ist meiner Meinung nach nur dann möglich, wenn Menschen sich auf einer Augenhöhe begegnen. Sarrazin hat jedoch mit seiner Haltung mehrmals bewiesen, dass es ihm nicht um einen ebenbürtigen Dialog geht. Wie also soll deiner Meinung nach dieser Dialog aussehen? Indem wir uns beugen, ihm das Recht auf Sprechen eingestehen, uns selbst als klagende Opfer inszenieren? Allem Anschein nach habt ihr ernsthaft erwartet, dass wir unsere andere Wange hinhalten würden. Wir haben uns stattdessen entschieden unsere Stimme zu erheben. Unserer Wut über die ständigen Schuldzuweisungen und Diffamierungen seitens Sarrazin freien Lauf zu lassen, uns über ihn zu empören und uns zur Wehr zu setzen.

Was du in deinem Artikel nicht erwähnt hast, liebe Güner, sind die Beleidigungen und die Beschimpfungen, die sich Sarrazin geleistet hat. Du hast nicht erwähnt, dass er mich als „strohdumm“ und meine männliche Begleitung als „linksradikalen Faschisten“ abgestempelt hat. Du hast nicht erwähnt, dass Sarrazin ihm in chauvinistischer Manier das Recht abgesprochen hat sich zu empören, weil er nicht aus Deutschland stamme, und sich deshalb als „Gast“ zu verhalten habe. Du hast nicht erwähnt, dass er uns permanent unterbrochen hat, und sich nicht mal getraut hat, in unsere Augen zu schauen. Warum scheut er sich davor? Liegt es etwa daran, dass er durch den Augenkontakt den Menschen in uns erkennen würde? Du hast auch nicht erwähnt, dass Sarrazin die alevitische Gemeinde, die ihre Begründung für die Ablehnung seines Besuches in einer friedlichen und ausführlichen Rede vorgetragen hat, als „antidemoktratisch“ abgewertet hat. Ebenfalls unerwähnt in deinem Artikel blieb seine Aussage, die Gemeinde würde durch diese Haltung nur Vorurteile bestätigen. Mit dieser Aussage hat er ihr nicht nur das Recht auf freie Meinungsäußerung abgesprochen, sondern einen Versuch gestartet ihren Handlungsspektrum gegen rechtspopulistische Politik zu vermindern: durch die drohende Äußerung und seine typische Machtdarstellung hat er nochmals unter Beweis gestellt, dass er nicht in der Lage ist, mit diesen Menschen auf einer Augenhöhe zu kommunizieren. Ich frage dich noch mal, Güner: Ist das das Niveau auf dem ihr Dialoge führen wollt? Ich glaube kaum. Also sag mir doch bitte, aus welchem Grund ihr uns KreuzbergerInnen „spontan und ohne großes Aufsehen“ besuchen gekommen seid. Warum ist dein Begleiter nicht vor seinem Bestseller auf die Idee gekommen, sich die Probleme und Sorgen der KreuzbergerInnen –speziell mit Migrationshintergrund- anzuhören, denn ein Dialog bedeutet auch zuhören. Sarrazin hat genug geredet und geschrieben. Jetzt sind wir an der Reihe zu antworten.
Abschließend, liebe Güner, möchte ich dir noch etwas mit auf den Weg geben: Wir werden uns von euch nicht verbieten lassen zu sprechen, denn wir sind gleichberechtigte BürgerInnen dieser Stadt und haben Mitspracherecht vor allem, wenn es um uns geht.

Eure Aktion hat uns außerdem deutlich gemacht, dass wir uns nicht abschaffen lassen werden.

Von: Beri vom „Kreuzberger Mob“

[1] beispielhaft: http://www.sueddeutsche.de/politik/gutachten-zu-thilo-sarrazin-rassistisch-elitaer-und-herabwuerdigend-1.58130 // http://www.akweb.de/ak_s/ak544/42.htm // http://andersdeutsch.blogger.de/stories/1501130/


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3 Antworten zu „Abschaffen und abschaffen lassen.“

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