(Selbst-)Kritische Anmerkungen zu emanzipatorischen Tendenzen und deren Konstruktion in Selbst- und Fremdwahrnehmung.
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„Es können nicht alle gleich sein, Nadine. Das geht gar nicht.“
Neulich sprach ich mit meinen Eltern über soziale Problemlagen. Meine Mutter versuchte zu argumentieren, dass ein_e Arzt_Ärztin immer besser bezahlt werden muss als eine Putzkraft. Wegen des Weges, den die entsprechende Person bis zu diesem Berufsstatus zurücklegt. Ein langjähriges Studium (beispielsweise) soll sich also am Ende bezahlt machen. Putzkraft kann schließlich jede_r. Ich entgegnete mit einer Argumentation für das bedingungslose Grundeinkommen und gegen das niedrige Lohnniveau in der Bundesrepublik. Ich versuchte mich mich an einer zaghaften Kritik des meritokratischen Prinzips in neoliberalen Kontexten, struktureller und sozialer Ungleichheit. Ich merkte schnell, dass es Ausreden waren. Denn was ich eigentlich dachte, war: Warum? Warum soll es Lohnunterschiede zwischen verschiedenen Berufen geben? Alle Berufe beziehungsweise alle produktiven und reproduktiven Tätigkeiten sollten gleichwertig nebeneinander stehen und dementsprechend gleich entlohnt werden, weil sie allesamt gesellschaftliche Relevanz erfüllen. Und schließlich kann es auch eine_n Arzt_Ärztin geben (und gibt es), die Putzkraft wird (ob er_sie will oder nicht). Der umgekehrte Weg wäre wünschenswert, doch bleibt wohl in den meisten Fällen Utopie.
Meine Eltern haben, in der DDR aufgewachsen, eine sozialistische Schule durchlaufen, kommunistische Pamphlete gelesen, rote Ideengeschichte gelehrt bekommen, waren mit einem Realsozialismus konfrontiert, der formal alle gleich behandelte und über faktische Unterschiede und Ungleichheiten kaum ein Wort verlor. Ich habe bis heute keine Ahnung, was Sozialismus, Kommunismus und das Wort „rot“ in diesem Zusammenhang bedeuten. Eine Vorstellung davon. Vielleicht. Das einzige, was ich mit Sicherheit weiß, sind ein paar Tatsachenberichte aus jener Zeit. Und das Gefühl, dass die DDR kein Unrechtsstaat war. Zumindest nicht mehr oder weniger als alle anderen Staaten rund um den Globus. Die ersten fünf Jahre meines Lebens verbrachte ich in diesem System, auch noch ein paar darauffolgende Jahre, denn bekanntlich dauerte es ein wenig, bis auch die letzten Spuren verwischt waren. Übrig geblieben sind Apathie, Arbeitslosigkeit und Aggressionen gegen etwas, was viele von uns noch immer nicht ganz verstanden und verarbeitet haben. Und Plattenbau. Meine Heimat. Ich kann nicht genau sagen, was es ist, aber es hat sich eingeschrieben, es ist Teil meiner Identität. Der Teil, den populistische Kampffiguren der politischen Bühne gern ausradieren würden. Der Teil, der schmerzverzerrt aufschreit, wenn er das Wort „Unrechtsstaat“ hört oder liest. Unrechtsstaat. Was soll das sein?
Auf der Suche nach dem Sinn von Begrifflichkeiten wirbelte ich weitere Jahre umher und der Wind trug mich bis ins Jahr 2011. Jetzt stehe ich da und reflektiere, was politisch aus mir geworden ist. Ich dachte lange, dass ein irgendwie verstandenes politisches Ich unmöglich sei. Dass das falsch gedacht war, weiß ich jetzt. Ich beschäftige mich mit Feminismus, Herrschaft, Macht, Dominanz, Ungleichheit, Strukturen, Normen – in der Theorie, im Alltag. Es hat meinen Blick auf die Dinge verändert, meine Art zu kommunizieren, meine Lebensentwürfe, mich. Ich habe mir Wissen in Feldern angeeignet, in die viele niemals vordringen werden.
Und jetzt? Ich bin nicht anders als andere. Ich habe Wissen hier und da. Kenne Menschen hier und da. Lebe mein Leben hier und da. Vielleicht bin ich anders positioniert als zuvor. Weil ich mich bewegt habe und andere mich bewegen. Geht anderen jedoch genauso. Manchmal bilde ich mir ein, mein Denken sei emanzipativ oder irgendwie links. Gerade habe ich Lust Texte über Ökonomiekritik zu lesen, andere Gesellschaftsentwürfe, in der ein ähnliches Leben möglich ist, so wie ich es momentan führe, nur ohne diese Ängste und Zwänge. Was wäre daran links?
Vielleicht würden mich andere in eine linke Ecke stellen. Zu den anderen Kommunist_innen, Antifaschist_innen, Sozis und roten Socken. Warum? Weil ich mich ab und an theoretisch und praktisch mit Dingen auseinandersetze, die andere als Ideologie und Gutmenschentum verteufeln? Weil ich mich gern mit Menschen umgebe, mich mit ihnen theoretisch und praktisch auseinandersetze, die andere als Ideolog_innen und Gutmenschen verteufeln? Weil ich vorhabe, demnächst an ein paar Projekten zu partizipieren, hinter denen andere Ideologie und Gutmenschentum vermuten? Weil ich wöchentlich ein Kickbox-Training besuche, das nur FrauenLesbenTrans* zugänglich ist? Weil ich den transgenialen CSD besuche? Weil ich mal auf eine „linke“ Demo gehe?
Auf andere wirke ich vielleicht nicht radikal, kritisch oder emanzipativ genug, zu upper-class, zu weiß, zu frau, zu lesbisch, zu able, zu normativ, zu chauvi, zu dominant, zu privilegiert.
Und alle haben sie recht. Ausschlüsse sind für mich je nach Perspektive immer möglich. Ich kann gar nicht dies und jenes sein. Nicht für mich. Nicht für andere. Nicht ohne andere. Nicht ohne mich.
Ein möglicher Ausweg wäre eben jener, der nicht danach sucht, einen Ausweg zu finden, es sich nicht auf einer Position gemütlich macht, von der aus dann theoretisiert, reflektiert, gesprochen, gehandelt wird. Sich einzugestehen in Brüchen und Widersprüchen zu stecken, permanent, fortwährend, wäre eine Herausforderung. Die Chance, die mit dieser Herausforderung einhergeht, wäre dann jene, beobachten zu können, wie wir uns verschieben mit dem, was wir fühlen, denken, tun.
Wir sind nicht gleich. Wir werden es niemals sein. Wir sind. Immer in Beziehung zu anderen.
Wir stellen uns neu auf. Bei jedem Versuch.
Emanzipation beginnt mit Selbsterkenntnis.
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