Als ich gestern mal wieder in einer Bar mit Vodka und tollen Menschen versackte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich bin endgültig da, wo ich nie sein wollte: Ich habe mich von Karriereplanungen verabschiedet.
Meinen ersten (bewussten) Berührungspunkt mit dem meritokratischen Prinzip des Neoliberalismus hatte ich mit 15. Damals wollten alle für ein Jahr in die USA. Ich wollte auch. Notgedrungen. „Das macht sich doch super im Lebenslauf“, sagte Mutti. Ich wusste nicht, was ich in den USA sollte. Ich hatte Angst, allein irgendwo hinzugehen, ohne mein Umfeld. Ohne etwas, was mir vertraut schien. Ich war doch noch so klein. Im Ernst: Ich hatte keinen Plan mit 15. Nicht mal einen konkreten Berufswunsch, und den sollte mensch mit 15 schon haben sollen müssen. Nicht mal Sex hatte ich. Ich hatte gar nichts. Außer das Internet und meine Chatsucht. Oh Gott, war ich erbärmlich. Das fällt mir gerade auch wie Schuppen von den Augen. Ich engagierte mich nicht in Projekten oder Vereinen. Trotzdem verspürte ich einen permanenten Druck von außen, mich endlich in eine bestimmte Richtung zu entwickeln, mich selbst zu formen oder mich der Fremdformung zu überlassen.
Aus dem Trip in die USA wurde nichts, ich hatte zu viel Angst und mein Bauch wehrte sich beständig. Später wurde ich immer wieder daran erinnert, wie wichtig ein längerer Aufenthalt im Ausland sei. Von meinen Eltern, vom Auslandsamt der Uni, das uns regelmäßig mit Infoveranstaltungen quälte, zu denen wir verpflichtet wurden, sie zu besuchen („Denken Sie an ihre Soft-Skills“), von den Medien, vom Alltag. Ja, meine Umwelt durchwehte permanent der Duft der Leistungmaschinerie. Bis heute habe ich nie mehr als 3 Wochen am Stück im Ausland verbracht.
Ich bin mittlerweile zehn Jahre älter, schließe im kommenden Jahr mein Masterstudium ab, habe vier Jahre Berufserfahrung vorzuweisen, eine Volontärsausbildung, drei Praktika. Während des Bachelorstudiums war ich ein Jahr lang als Chefredakteurin der Unizeitung tätig, insgesamt wirkte ich drei Jahre an dem Blatt.
Ich habe 271 Kontakte (Stand Dezember 2010) bei Facebook, von denen etwa 240 reale Personen sind, von denen ich bis auf wenige Ausnahmen alle persönlich kenne und jede_n einzelne_n schmerzlich missen würde, würden sie mich nicht fein säuberlich sortiert in der linken Spalte meines Profils anlächeln, ab und zu kommentieren und den Like-Button drücken. Mein Twitterprofil wird von über 1000 Accounts verfolgt, meinen Blog lesen im Durchschnitt 200 Menschen täglich. Meine Medienelite-Fanpage hat 227 Fans. Ich bekomme Mails, Nachrichten, Tweets von Leuten, die mir sagen, wie toll sie finden, was ich schreibe. Gestern Abend wurde ich begrüßt mit: „Du bist doch Lantzschi von Medienelite!“.
Seit einem halben Jahr schreibe ich für das meistgelesene deutschsprachige feministische Blog. Seitdem kennen noch mehr Menschen mein Gesicht und meine verschriftlichte Pöbelei. Sascha Lobo schickt mir unaufgefordert sein neues Buch nach Hause. Ich werde zu Geburtstagen eingeladen, an denen ich mich benehme wie Sau (Danke für die Geduld, Annina!), werde um Grasovka und Gespräche über Brüste gebeten und namentlich auf einem FAZ-Blog erwähnt.
Ich zähle das hier nur auf, um zu verdeutlichen, wie weit weg sich meine momentane Lebenswelt von dem bewegt, was immer wieder durch meine Eltern oder das System(!) an mich herangetragen wurde. Und wie sehr jeder einzelne Aspekt von dem mich verändert. Sobald ich DAS nehme und in die Zukunft transferiere, sehe ich ein buntes Puzzle, was sich vor meinen Augen beständig neu zusammensetzt. Es glitzert so schön und es ist nicht greifbar. Es formt sich kein fertiges Bild, sondern permanent schlagen Farbkleckse wie kleine Kometen darauf ein. Die entstehenden Krater werden augenblicklich mit neuen Farbsprossen überdeckt.
Ich werde nie in einem 40-Stunden-Job für mehr als zehn Jahre arbeiten. Und ich werde wahrscheinlich auch nie das Gehalt bekommen, was ich mir vor Jahren noch für mich vorstellte, um mir meinen dekadenten Lebensstil zu finanzieren. Ich habe mir geschworen, dem Lebenslauftuning eine Absage zu erteilen. Ich mache keine konkreten Pläne. Ich weiß nur, dass ich mich noch sehr lange baden will in dem, was sich Blase nennt. Ich inhaliere Theorie und neue Menschen, die plötzlich auftauchen und es sich neben mir gemütlichen machen. Ich will meine Dissertation und mindestens 3 Bücher schreiben, ich will politisch tätig sein. (Und Rockstar). Ich will irgendwann auf meinem eigenen Balkon sitzen, während die Sonne durch die Baumkronen mein Gesicht kitzelt, französische Zigaretten rauchen, abwechselnd einen Blick auf meine Kinder und die Tageszeitung werfen und wissen: Du bist.
Vielleicht bin ich bis dahin durch den Grand Canyon und den Himalaya gewandert, habe im Ganges gebadet und in einem iranischen Club getanzt, bis die Sonne am Horizont auftauchte.
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