Vor zwei Tagen setzte Frank Rieger obigen Tweet ab und versah seine Äußerung mit einem Link zu diesem Artikel. Inhalt des Artikels ist folgender: Ein Mann singt vor Männern und Frauen und bekommt dafür als Strafe 39 Peitschenhiebe. Woran denken Sie, wenn sie das lesen? Sicher nicht sofort an das Judentum und bestimmt fällt Ihnen auch nicht gleich an, weshalb sich der Sänger inkorrekt verhalten hätte. Eine orthodoxe Auslegung des Judentums trennt in vielen gesellschaftlichen und privaten Bereichen nach Geschlecht. Zuwiderhandlungen stehen offenbar unter Strafe, wie uns dieser Artikel nahe legt. Soweit.
Wie der abgebildete Tweet zeigt, retweeteten 13 Twitterer diesen Tweet (mit Frank Rieger’s Äußerung) über die Retweet-Funktion von Twitter.com (OMG dieser Satz!). Weiterhin gab es noch andere Formen der Retweets mittels „RT @frank_rieger“ und „via @frank_rieger“. Der Artikel selbst wurde bereits über 2000 Mal auf Facebook gepostet und fast 300 Mal auf Twitter verbreitet. Wie oft er angeklickt und gelesen wurde, kann ich hier nicht nachvollziehen, aber das soll uns auch nicht weiter interessieren.
Während also deutschsprachige Twitterer Riegers Äußerung über „Wüstenreligionen“ kommentarlos übernahmen, setzte @doktordab ein paar eigene Worte ein: „Nicht nur Taliban peitschen Sünder. Auch in Israel kann man wegen Singens bestraft werden“ Fefe übernahm den Artikel in seinen Blog und schrieb folgende Worte dazu: „39 Peitschenhiebe für einen Sänger, weil er vor Männern und Frauen vorgetragen hat. Saudi Arabien? Iran? Nein, Israel!“ Warum ich das erwähne, erzähle ich gleich.
Doch zunächst soll es darum gehen, weshalb ich mich diesem Thema überhaupt zuwende bzw. warum es mir sogar negativ aufgestoßen ist. Der Artikel selbst erschien am 27. August in der israelischen Presse. Frank Rieger, die Twitterer und Fefe verlinkten ihn am 29. August – also nur einen Wimpernschlag von Sarrazins Äußerung entfernt, alle Juden würden ein bestimmtes Gen teilen. Dieser Hinweis ist deshalb von Bedeutung, hat Sarrazin damit bestimmte Diskurse wieder neu entflammt: Seit dieser Äußerung (und natürlich auch seit den Äußerungen über Muslime, Türk_innen und Araber_innen, sowie dumme Unterschichtler_innen) reden wir auf einmal wieder über Kultur, Religion, Biologie und die Vererbbarkeit von Intelligenz – alles wird im selben Atemzug erwähnt, aufgedröselt, zersetzt, kritisiert, in Teilen befürwortet usw.
Es ist also durchaus nicht unwahrscheinlich, dass Konsument_innen und Teilnehmer_innen dieser Diskurse im Netz herumsurfen auf der Suche nach Informationen über die Teilaspekte dieser Diskurse, um sich Wissen anzueignen und damit später etwas zum Diskurs beitragen zu können. Die Fülle der abgesetzten Tweets und geschriebenen Blogeinträge, sowie etliche Zeitungsartikel, etc. zu Sarrazin legen dies nahe.
In diese Diskurse führt Frank Rieger nun den Artikel ein, dass im Judentum Geschlechterseparation gelebte Praxis ist, die bei Zuwiderhandlung bestraft wird. Was bringt uns diese Information? Erstmal nichts, weil sie keinen Neuigkeitswert darstellt. Weder ist Geschlechterseparation im Judentum neu, noch Geschlechterseparation als solche, die sich in unterschiedlichen (auch atheistischen) Gesellschaften vielfältig wiederfindet.
Wahrscheinlich wurde der Artikel daher aus dem Grund erwähnt, dass Peitschenhiebe zum Bestrafungs- und Züchtigungsregime vermeintlich rückschrittlicher, religiös geprägter Gesellschaften („Wüstenreligionen“, „fundamentalistische Spinner“) gehören. Rieger hält diese Praxis darüber hinaus für natürlich. Natürlich, weil Strafe in Form physischer Gewaltanwendung Religionen und fundamentalistischen Strömungen (für Rieger scheint das eine Suppe) inhärent seien. Sie lägen in der Natur der Sache. Zweifelsohne ist das eine unzulässige Naturalisierung religiöser Praxis und Religion selbst und daher völlig unsachlich. Der Ton, der dieser Äußerung beiwohnt, trägt zu meinem Eindruck bei. Riegers Fazit: Religionen sind scheiße.
Einen Schritt weiter gehen @doktordab und Fefe mit ihrer Kommentierung, weil sie sich mehr auf der Meta-Ebene abspielen und nicht sofort zu dechiffrieren sind. Hier wird nicht mehr dezidiert auf das Judentum abgestellt, sondern auf den Staat Israel. Judentum = Israel, wollen uns die beiden Herren mitteilen. Zwar fand dieses Ereignis in Israel statt, doch was hat das mit der Geschichte als solche zu tun? Ich sehe hier keinen Zusammenhang und daher auch keinen Grund, Israel ins Spiel zu bringen, es sei denn, es steckt ein anderes Motiv hinter der Äußerung statt die Kritik an der Bestrafungspraxis. Hier ließe sich aber lediglich spekulieren, deshalb lasse ich das.
Weiterhin teilen Fefe und @doktordab Riegers Ansicht, Religionen im allgemeinen und das orthodoxe Judentum im besonderen seien hauptsächlich fundamentalistischer Prägung, da sie zum Vergleich die Taliban, Saudi-Arabien und Iran heranziehen. Wieder findet eine Gleichsetzung von Religion und Staat statt sowie eine Pauschalisierung, in diesen Ländern seien hauptsächlich fanatische Fundamentalist_innen am Werk, die ihre Glaubensanhänger_innen mit drakonischen Strafen geißeln. Als wäre dies der einzige Gehalt von Islam und Judentum und als seien diese Religionen die einzigen Weltanschauungen in diesen Ländern.
Besonders perfide sind diese Kommentierungen allein deshalb, da sie den Eindruck erwecken: „Ihr regt euch immer über den Islam auf, der is aber gar nicht mehr böse als das Judentum“. Hier soll eine politische Botschaft vermittelt werden: Den Islam als westliches Feindbild aufzugeben und Religionen als solche in Frage zu stellen. Also ganz nebenbei noch eine unbewusst oder bewusst eingestreute Kritik am vermeintlich westlichen Vorgehen der Instrumentalisierung. Wie absurd.
Mir geht es nicht darum, Religionen nach ihren Dogmen zu werten und zu hierarchisieren, sondern zu veranschaulichen, dass Rieger, Fefe und @doktordab ein einseitiges Bild von Staaten und Religionen zeichnen, das so nicht zutreffend ist und sich unter die diskursive Gemengelage mischt, die Sarrazin mit seinen Äußerungen losgetreten hat. Unverantwortlich in meinen Augen.
Vielleicht sollte mensch sich vorher fragen, warum er/sie/es glaubt, diese Information sei jetzt wichtig genug, sie zu streuen und zu kommentieren. Die Antwort gibt mir beispielsweise dieser Artikel (mit dieser Überschrift!!! WTF!?!) auch nicht.
Dass solche Tweets, Artikel und Bemerkungen antisemitische Ressentiments befördern können und mal wieder „den“ Islam konstruieren, ist den Herren offenbar nicht bewusst. Noch weniger wird ihnen bewusst sein, dass sie damit ihre eigene Position überhaupt nicht reflektiert haben. Die Norm der westlichen Welt mit ihren angeblich ursprünglichen Werten von Freiheit und Demokratie und ihre Rolle im anti-westlich geprägten fundamentalistischen Spiel bleibt weiterhin unsichtbar. Sarrazin ist dies auch nicht bewusst. Aber das wäre jetzt wirklich ein unzulässiger Vergleich.
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