Ich hab letztens meine alten Tagebücher wiedergefunden und ein bisschen darin herumgeblättert. Manchmal random ein paar Einträge gelesen. Bei einem bin ich länger verweilt. Er ist von 1998. Es war kurz vor meinem 13. Geburtstag.
Ich war noch völlig mit der Vorstellung im Einklang, dass ich ein pubertierendes Mädchen bin, das früher oder später einen Typen toll finden muss. Dass da irgendwie nie welche waren, die mich interessiert hätten – who cares? Dass ich mit den Mädchen in meinem Alter nie wirklich wohl fühlte? Pfff…Schwamm drüber.
Und dann war da dieser Eintrag, der irgendwie alles erklärte, obwohl ich darin überhaupt nicht über mich oder mein Erleben schrieb. Nur über meine Beobachtungen. Ich kann über junge Menschen, die 2015 12 oder 13 Jahre alt sind wenig sagen, aber 1998 war es jedenfalls noch so, dass es in diesem Alter anfing, unangenehm zu werden, was den ganzen Hetenkram anging. Die „Iiiieh Jungs“-Phase neigte sich dem Ende zu, das eigene Aussehen (im Sinne von „Attraktivität“) und das anderer wurde permanent bewertet und zu regulieren versucht. Nicht für sich, sondern in erster Linie für die gleichaltrigen oder älteren Typen und im Treten nach unten mit vermeintlichen „Konkurentinnen“ oder „Schwächeren/Uncoolen“. Wer in der basisdemokratischen stillschweigenden Mehrheit mit dem Label „cool“ getackert wurde, galt als begehrenswert. Dieses „cool“ orientierte sich zu „meiner Zeit“ (hach…) an klassischen heterosexuellen und zweigegenderten Stereotypen. Slutshaming ging los und Femininitätsfeindlichkeit war genauso am Start wie Homophobie und sexistische Sprüche für diejenigen, die zwei-Gender-Normen durch ihre Performances verließen.
Zwar schrieben mir meine damaligen Mitschüler vier Jahre später nach dem Ende der 10. Klasse hauptsächlich die Kommentare „du siehst gut aus“ und „du bist witzig“ (LOL) auf mein Abschiedsplakat (jede_r musste bei jeder_m was auf’s Plakat schreiben), doch hatte ich bis dahin nur lächerliche kurzweilige Nicht_Beziehungen mit Jungs, die super unangenehm für beide waren und in die wir halt so reingequatscht wurden, damit der Schulhof-Gossip bei Laune bleibt.
Heterosexualität hat mir meine Beziehungen zu Typen schon frühzeitig versaut, muss ich zugeben. Bis dahin waren sie meine liebsten Spielgefährten, weil sie sich öfter für Dinge interessierten, die mich interessierten, weil ich als „Mädchen“, die auf „Jungskram“ steht, anerkannt wurde und weil dieses zweigenderwerdenaneinandergekettet-fuckup einfach auch mal Welten trennt, die eigentlich locker miteinander ko- und in sich oder ganz anders existieren könnten. Als es zusehends um Sexualität und Begehren über ein nicht-sexualisiertes_romantisiertes Hingezogenfühlen hinausging, wurde es eigentlich unmöglich die zuvor lockeren und kumpeligen Beziehungen zu Typen aufrecht zu erhalten.
Zum einen, weil die Typen immer unangenehmer wurden, durch aufkommendes und ständig neu einzustudierendes sexistisches Verhalten (nicht, dass es davor nicht auch Gewalt gegeben hätte, nur ich persönlich hatte das zu diesem Zeitpunkt meines Lebens noch anders abgespeichert). Zum anderen, weil wie bereits oben angesprochen, sich viel um male gaze und Typen-Bezogenheit im eigenen Handeln drehte. Frei sprechen davon kann ich mich nicht, war ich doch die Jahre zuvor auch stark typen-bezogen in meinem Sozialverhalten, weil es meine prioritäre peer-group war. Und die ständigen heterosexualisierten Anrufungen an mich als Person, meine Sexualität und meinen Körper hinterließen zusätzlich ihre Spuren.
Außerdem bemerkte ich, wie ich mich vermehrt in mich zurückzog und das Gefühl hatte, meine Gedanken nicht mehr mit Typen teilen zu wollen. Ich war awkward, was den Umgang mit „Mädchen“ betraf, weil sie ständig nur über Typen redeten und ich mit stärker werdenden Selbstverleugnungsgedanken und Suche nach Identität selten bei ihren Themen und Gefühlswelten anklopfen konnte. Bei ihnen schien das oft sehr widerspruchsfrei und selbstverständlich abzulaufen. Was nicht heißt, dass es keine Kritik gegeben hätte (über sowas sprachen wir erst viele Jahre später deutlich und konkret), doch das, was nicht gewollt wurde oder im Widerspruch zu sich selbst stand, wurde vielleicht eher hingenommen. So meine Interpretation im Nachhinein. Jedenfalls gab es in mir schon lange, bevor ich das für mich klar hatte, das Gefühl irgendwie viel Zeit in einem „Außen“ zu verbringen.
Ich verstand nicht, wieso. Vielleicht war ich im Grunde einfach verwirrt, weil sich die sozialen Gruppen, die ich vorher eindeutig als „passend oder nicht“ benennen konnte, auflösten und in ihrem gesamten Habitus heterosexualisiert wurden und wir als junge Menschen nun jederzeit all das selbst offen anwendeten, was wir sowieso von Geburt an eingetrichtert bekommen hatten? Auch hier ist es natürlich so, dass Kleinkinder schon heteronormative Praxen haben, die einzigen unangenehmen Situationen erlebte ich jedoch nicht mit Gleichaltrigen, sondern wie Erwachsene reagierten, wenn wir Grenzen sprengten oder „zu hetero“ waren (Bsp: Ein Schmatzer auf die Wange und schon hattest du einen Kindergartenfreund. Aber nur einen, bitte!)
Dieses „Außen“, in dem ich mich öfter befand, brachte es spannenderweise mit sich, dass ich besser beobachten konnte, ohne durch Hetenkram den Blick verduselt zu bekommen. Eines Tages wagte ich mich an eine Analyse meiner Klasse. In dieser stellte ich meine ersten Thesen zu Auswirkungen von Heterosexualität bei Frauen auf. Ich benutzte Worte, die auf dem Schulhof nur als Abwertungen zu verstehen sind, als einfache Identitätskategorien. Ich konnte verschiedene Stadien skizzieren. Dieser Text ist derart emotionslos und trocken (und lustig!), so als hätte ich fünf Seiten mit Differentialrechnung ohne Zahlen zugebracht.
Ich schrieb nicht auf, was das alles mit mir machte, sondern mit meinem sozialen Umfeld. Ich konnte mich von meinem Forschungsobjekt in einer Art und Weise abgrenzen, die mir heute nur noch sehr selten gelingt. Weil mehr als 15 Jahre dazwischen liegen.
Sollte ich jemals wieder gefragt werden, ob ich wüsste, was die „eigentliche“ Ursache für „sexuelle Orientierung“ (meint in der Alltagssprache meistens schwul und manchmal auch lesbisch) sei, werde ich sagen: Heterosexualität.
Denn sonst bräuchte es keine/n Begriff/e für meine „Abweichung/en“.