Es gibt eine neue Kampagne: Menschen erzählen über ihre „psychischen Krankheiten“, um sie vom „Stigma“ zu befreien. Ich schreibe hier absichtlich nicht „um sich vom Stigma zu befreien“, denn das würde die Motivation dieser Kampagne verkennen. Menschen werden in dieser Gesellschaft schließlich nicht bestärkt, sich von den Verhältnissen zu befreien, die sie in eine solche Lage versetzt haben, sondern sie müssen befreit werden von außen. Dieses „außen“ – in diesem Fall all jene, die „behandeln“ – legt fest, wie Menschen befreit werden sollen. Im besten Falle paternalistisch, in jedem Falle systemstabilisierend.
Hannah Rosenblatt und Steinmädchen haben wertvolle Kritiken an dieser Kampagne verfasst, die ich gerne mit euch teilen will. Es geht darum in Frage zu stellen, warum Menschen bestimmte (emotionale, psychische) Verhaltensweisen wählen, um mit etwas umzugehen, das ihnen passiert ist/das sie erlebt haben. Diese Reaktion auf eine Umwelt oder einen bestimmten Kontext oder Erfahrung/en als „Krankheit“ zu bezeichnen, ist problematisch. Problematisch, weil es den Umgang, das Verhalten derjenigen Person zum Problem erklärt und dieser einen Behandlungsbedarf zuweist. Nicht kritisiert, als behandlungsbedürftig erklärt wird der Umstand, der die Person veranlasst auf diese und jene Weise zu reagieren.
Die hiesige feministische Blogosphäre hat schon einiges zu Pathologisierung und „psychischen Krankheiten“ geschrieben. Die Bandbreite der Beiträge reichte von deutlichen Kritiken am Konzept „Krankheit“ und der Verwendung von Diagnosen und medizinischen Begriffen für das eigene Erleben und Wahrnehmen sowie Kritik an Therapien und Psychiatrien bis zu jenen Texten, die auch auf der Webseite der aktuellen Kampagne hätten stehen können. Die pathologisierungskritischen Texte habe ich zunächst mit einem großen Unbehagen gelesen, das ich erst später formulieren konnte. Obwohl ich die Perspektive teile, hatte sie wenig mit meinem Alltag und meinem Bedürfnis nach Austausch über Umgänge zu tun. Ich war verunsichert. Ich wusste nicht, wie ich über meine Erfahrungen und mein alltägliches Bewältigen sprechen konnte, ohne das zu wiederholen, was in diesen Texten kritisiert wird oder Menschen zu nahe zu treten, die für sich andere Umgänge und Erzählungen wählen. Ich dachte häufiger: „Muss ich erstmal eine universale Kritik an etwas üben, das ich selbst an mir noch nicht mal verstehe?“ Ich brauchte zu diesem Zeitpunkt konkrete Worte, konkreten Austausch. Weniger über die Ursachen, mehr über Fragen à la: „Und wie kommst du klar?“, „Was machst du, um zu funktionieren, wenn du funktionieren willst?“, „Wie gehst du mit Frustration um, wenn Dinge nicht so klappen, wie du es dir vorstellst?“ usw usf.
Ich war zunächst froh, als ich andere Texte las, in den Personen über ihren „kranken“ Alltag schreiben. Trotzdem waren die Texte für mich nicht hilfreich oder in irgendeiner Form supportend. Mir fiel auf, dass Erleben und Wahrnehmung oft so beschrieben wurden, dass sie in ein allgemein gültiges Erklärungsmuster passen, nach dem auch entsprechende Diagnosen vergeben werden. Texte über bspw. Depressionen lasen sich ähnlich, manchmal einhergehend mit einer Verwendung des Begriffes, der etwas temporäres deklariert. „Ich habe Depressionen“ fiel häufiger. So als sei das immer etwas, was mensch bekommt und durch z.B. eine Psychotherapie wieder wegbekommt. Über bestärkende Umgänge (auch jenseits der Psychotherapie) wurde zudem so gut wie nie geschrieben. Ich las eher das, was ich von mir auch kenne: „Nehmt mich wahr, mir geht es schlecht, ich komm‘ nicht klar, ich komm‘ nicht zurecht, mein Alltag gleicht einem sich wiederholenden Desaster, aus dem ich keinen Ausweg finde… ääääh Self-Care!!!“ Ja, Self-Care-Konzepte wurden jubelnd aufgenommen, als sei „Ich tue, was mir gut tut!“ eine Erfindung schlauer Personen, die sich mal Gedanken gemacht haben, wie das denn so geht mit dem lebenswerten Leben (als Aktivist_in). Jeder selbstgebackene Muffin, jedes gelesene Buch, jedes „Heute bleibe ich zu hause und tue gar nichts!“, jede Yoga-Stunde wurde mit dem Label Self-Care versehen und erhielt damit eine politische Legitimation, weil ich es offenbar selbst nicht schaffe, das Schöne-Dinge-tun einfach so zu tun. Sich aus sich selbst heraus für bestimmte Handlungen zu entscheiden, die mir gut tun oder ein gutes Gefühl geben, mich ablenken oder was auch immer die Motivation ist.
Am meisten irritiert hat mich jedoch die Erzählung, die immer einen direkten Kausalzusammenhang zwischen Erfahrung und Erleben herstellte. Ich habe das und jenes erfahren, deswegen (habe ich nun Depressionen). Das Erleben wird so automatisch mit Erfahrungen verknüpft, die verständlicherweise negativ/traumatisierend/krankmachend konnotiert sind. Ich stelle nicht in Frage, dass mein Bewegen in der Welt, mein Alltag, mein Erleben in Bezug zu meinen Erfahrungen steht, damit verbunden ist. Ich könnte nicht argumentieren, warum das anders sein sollte, weil ich es schlicht nicht weiß. Ich könnte stundenlang hin und her analysieren, warum ich gerade so bin wie ich bin, so fühle wie ich es tue. Wenn ich nach Monaten und Jahren fertig damit bin, weil sich die Analyse endlich zufriedenstellend anfühlt und ich glaube jeden Winkel meiner Psyche und jede Situation meines Lebens aufgespürt und ausgeleuchtet zu haben, was bleibt mir dann? Die Erkenntnis, dass (Depressionen) etwas sind, das hätte vermieden werden können, wenn nicht dieses und jenes passiert wäre? Diskriminierung nicht existent wäre? Dass ich jetzt ein anderer Mensch wäre mit einer anderen Biografie? Ich hab für mich festgestellt, dass ich das gar nicht will. Ich will nicht jemand anders sein und ich will auch nicht (Depressionen) als etwas annehmen, das ich aus Gründen „bekommen“ habe (und eine Bürde darstellt). Das kann von mir aus so sein und ich finde jede Kritik an den gesellschaftlichen Ursachen davon wichtig, doch mir ganz persönlich hilft diese Erkenntnis nicht. Sie bringt mich nicht aus dem Bett, wenn ich aufstehen will, aber nicht kann. Sie hält mich nicht vom Grübeln ab, sie gibt mir kein sinnstiftendes Gefühl oder Motivation zu leben. Ich könnte vielleicht schlussfolgern, dass der Sinn meines Lebens darin besteht, Widerstand zu leisten gegen das, was Gesellschaft mit mir und anderen tut. Aber das reicht mir nicht. Ich weiß das, weil ich es so erlebe. Es reicht mir nicht, weil ich so permanent daran erinnert werde, dass ich in Bezug zu (eigener) Diskriminierung, Gewalt und Unterdrückung stehe. Weniger in Bezug zu Befreiung, Verantwortung und Solidarität, Gemeinschaft. Es bringt mich weg von Gedanken, die ich denken möchte, mir aber verbiete, weil sie vermeintlich unrealistisch sind. Ich habe das Gefühl mich selbst einzuschränken, mein Erleben einzuschränken, wenn ich (Depressionen) ausschließlich als Folge oder Handlungsoption von Trauma begreife. Ob ich es nun Krankheit nenne oder nicht, ob ich es als „heilbar“, Stadium oder dauerhaft imaginiere.
Zu meinen inneren Wahrheiten gehört, dass ich bereits mit fünf oder sechs Jahren mich und das drumherum so wahrnahm, dass ein Diagnosehandbuch den Begriff (Depression) ausgespuckt hätte. Ich hatte damals bereits jene Gefühls- und Gedankenwelten, die mich seitdem in verschiedenen Farben, Formen, Bildern, Perspektiven, Ausprägungen, Verhaltensmustern, Handlungen, Emotionen durch mein Leben begleiten. Meine Therapeutin sagt, dass ich „zu Depressionen neige“. Ich mag, dass sie es schafft, so mit mir zu sprechen, dass ich nicht das Gefühl bekomme, ich sei eine wandelnde Psychopathologie. Auch wenn wir manchmal unterschiedliche Perspektiven auf Werden und Gewordensein haben, so hat mir auch die Therapie dabei geholfen, mich selbst anzuerkennen. Ich kann über mich sprechen als … Person mit … Verhaltensweisen, die meinetwegen nach Diagnoseschlüssel Blabla als (depressiv) kategorisiert werden. Ich habe keine (Depressionen), ich bin (depressiv)_so, wie ich im Moment gerade bin. Ich muss nichts wegtherapieren, wegbekommen oder mich bis zur spiegelbildlichen Unkenntlichkeit selbst optimieren und self-caren, weil ich mich und mein Erleben nicht akzeptieren kann und das hat meine Sicht auf mich selbst radikal verändert. Für mich sind das keine Phasen und nicht nur Umgänge mit/Reaktionen auf z.B. Diskriminierung, sondern macht mich auch zu dem Menschen, der ich vor 25, 15, 10, 5 Jahren war und heute bin. Und ich bereue keine Minute und trauere um keine, die ich nicht erlebt habe.
Außer, wenn ich mal wieder in einer „depressiven Phase“ stecke ;)