Unter uns.

Es gibt Situationen, in denen mich meine Naivität überrascht. Geboren und aufgewachsen in  Hoyerswerda, studiert in Mittweida, Familie und Freund_innen in Dresden. 33 Jahre Sachsen kann ich mir in den Lebenslauf schreiben. Darauf einen Schnaps. Brennt ganz ordentlich, aber betäubt  immerhin.

Eigentlich sollte ich es besser wissen. Oder zumindest meine Hoffnung soweit im Zaum halten, dass sie mir nicht wie ein kalter Schauer über den Rücken fährt, sich in meinem Nacken festkrallt, mit gehässigem Blick über die linke Schulter lugt und selbstgerecht „Hab ich’s dir nicht gesagt, hm?“ in mein Ohr säuselt. 

Kabarett am 2. Weihnachtsfeiertag in Dresden. Angekündigt war das Stück als  Persiflage auf die politische Situation Sachsens zwischen AfD-Wahlerfolgen, täglichen Angriffen auf Geflüchtete und dem rassistischen Normalzustand. Ich hielt das tatsächlich für eine gute Idee.

Soll das kulturell interessierte Dresdener Kleinbürgertum ruhig mal ein bisschen Haltung üben. Immerhin kann Pegida seit Jahren jede Woche zum völkisch-nationalistischen Bingonachmittag für besorgte Rassist_innen und gewaltbereite Nazis einladen, ohne dass sich wer ernsthaft um das Image der Stadt sorgen würde. Bei pogromartigen Hetzjagden durch die Prager Straße wird der gemeine Dresdener da schon etwas nervös. 

Erwartungsvoll nahm ich also neben meinen Eltern und meiner Freundin Platz und grinste zufrieden beim Anblick voller Ränge und Tische. Ausverkauft. Jacket gerichtet, Fliege zurecht gezupft, Socken hochgezogen, Hosenbeine glattgestrichen. Wie bei meiner Jugendweihe konnte ich es kaum  erwarten, endlich den Weg in eine neue Erfahrungswelt zu beschreiten: Antifaschismus und Antirassismus sind im Land der Shoah nicht mehr nur vermeintlich linksextreme Ideologie, sondern gesellschaftlicher Grundkonsens. Selbst das Ding in meinem Nacken konnte meine Euphorie nicht stoppen. 

Nach fünf Minuten waren meine Hände schwitzig, nach zehn Minuten hatten meine Lider Muskelkater vom Augenrollen, nach fünfzehn Minuten setzten die Kopfschmerzen ein, weil meine Stirn immer wieder auf meine Hand fiel. Eine halbe Stunde blankes Entsetzen später verließen wir in der Pause gesammelt die Veranstaltung. Es wurde beherzt Vergewaltigung verharmlost,  Sexarbeiter_innen durch den Dreck gezogen, diskriminierungssensibler Sprachgebrauch verhöhnt und das rassistische Weltbild weißer Deutscher mit viel Liebe für’s Detail nachgezeichnet – wir sind ja  schließlich „unter uns“. Dem Gelächter nach zu urteilen gehörten wir als Spaßbefreite zu den  Außenseitern. 

In diesen 45 Minuten verwandelte sich das selbstgerechte Ding in meinem Nacken zu einem Monster der Vergangenheit. Von hinten fest umschlungen war ich mir nicht mehr sicher, was schlimmer war anzusehen: Die unsägliche Afroperücke auf einem der Schauspieler oder die Schenkelklopfer des  Publikums, die Menschenfeindlichkeit von ihrem Weihnachtsteller naschten, ohne sich daran zu verschlucken.

Ich schloss die Augen und da waren sie wieder, die vielen Situationen, in denen ich wahlweise genervt, voller Scham oder schmerzvoll lernte, dass man sich in Sachsen für Augenhöhe und Menschenwürde anstellen muss wie für saftig-süße Orangen zur Adventszeit 1987.

Ich lernte auch, dass ich froh sein kann, dass mir in Sachsen nicht jeder Nazi oder piefige Häuschenbesitzer nach dem Leben trachtet wie anderen Mitmenschen, die dann unter tosendem Beifall gesammelt aus der Stadt gebracht werden, damit sich deren übrige Bewohner_innen und Repräsentanten nicht mit  Imagefragen beschäftigen müssen. Wir sind ja schließlich „unter uns“. 

„Unter uns“ wird auch diskutiert, wenn es um die Zukunft Sachsens geht. Unter uns, die man zur  politischen Wetterlage passend gerne „zurückgelassene Ossis“ und „Wendeverlierer“ nennt, aber nie Rassisten und Nazis. Wir sind ja schließlich „unter uns“.

Die Wahlergebnisse der letzten Bundestagswahl und die Wahlumfragen zur Landtagswahl 2019 zeigen, dass man das auch in Zukunft bleiben möchte – und zwar unabhängig vom eigenen sozioökonomischen Status, den  Wahlprogrammen demokratischer Parteien und den strukturpolitischen Maßnahmen der Ära Biedenkopf, von denen vor allem die größeren Städte im Freistaat profitiert haben. Leuchtturmpolitik  für „unter uns“, aber nicht für „außer sich“. Außer sich sind die Sachsen hingegen schnell, wenn wer an ihre Türe klopft und um Einlass bittet. Selbst an Weihnachten. 

Ein halbes Jahr später keuche ich mit Mutti durch die Sächsische Schweiz. Auf dem Weg nach oben Graffitis an Felsen und Rastplätzen, die zu antifaschistischem Widerstand aufrufen und ermordeten Kämpfer_innen gedenken. Vielleicht kann ich ja meine Freund_innen aus dem Rest der Republik doch irgendwann auf eine Wandertour mitnehmen… 

„Unter uns gesagt ist das ganz schön naiv“, befindet das Ding in meinem Nacken. „Irgendwann“,  erwidere ich unbeirrt und schnippse es weg.  

Irgendwann können wir alle unter uns sein, ohne dass jemand außer sich ist. Irgendwann. 


Beitrag für die Broschüre „Es liegt an uns – wie wir Zuversicht schaffen können“ der Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag, Dresden, November 2018.


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