Ist der Doppelpunkt das neue Sternchen, weil er barrierefrei ist? Oder doch nur eine augenfreundliche Variante für cis Menschen, weil Arbeiter:innen den Lesefluss vermeintlich weniger stört als Arbeiter*innen oder Arbeiter_innen?
Der Beitrag von Eddy in der aktuellen Missy scheint auf diese beiden Fragen relativ eindeutige Antworten zu haben. Für mich ist das Ganze komplizierter.
Ein gestörter Lesefluss vermittelt noch keine Bedeutung. Problem?
Es mag sein, dass Arbeiter:innen für sehende Menschen weniger den Lesefluss stört als Arbeiter*innen oder Arbeiter_innen, egal, ob handgeschrieben, gedruckt, digital, genutzte Schriftart, Anzeigegerät. Anstelle des gewünschten „Unterbrechens“ des Leseflusses wird möglicherweise eine „weibliche“ Plural-Form mit einer ungewohnten oder versehentlichen Schreibweise eingelesen. Menschen, die der Doppelpunkt in seiner Bedeutung eigentlich einschließen soll, werden so in der Wahrnehmung der Rezipient:innen ausgeschlossen. Stern oder Unterstrich sind dahingehend weniger leicht zu übersehen, aber eine Unterbrechung ruft noch kein Hinterfragen eigener (Geschlechter-)Vorstellungen hervor, von der „korrekten“ Einsortierung in die richtige Bedeutungsebene ganz zu schweigen: es gibt mehr Geschlechter als Mann oder Frau.
Doppelpunkt, Stern oder Unterstrich zur Bezeichnung von Personen/Gruppen sind bisher kein allgemeiner deutscher Sprachgebrauch, auch wenn Politik, Verwaltung, öffentliche Einrichtungen und Organisationen, Presse und Medien vermehrt zu diesen Sprachformen greifen, was natürlich erfreulich ist. Nach wie vor verwenden und verstehen viele Menschen diese Formen aus Unkenntnis oder mangelndem Vorstellungsvermögen als moderne oder zeichensparende Kurz-Formen der Beidnennung Arbeiterinnen und Arbeiter oder als Mehrzahl von Arbeiterinnen mit Tippfehler. Die Aussprache mit einer Pause zwischen „weiblicher“ und „männlicher“ Form ändert daran wenig.
Jede nicht intendierte Wahrnehmung von geschlechtergerechten Sprachformen ist meiner Meinung nach nicht per se der Form, sondern in erster Linie dem Umstand geschuldet, dass wir in einer Gesellschaft leben, die nur zwei Geschlechter und restriktive Definitionen dazu kennt und (sprachlich) vermittelt. Noch mehr öffentliche Repräsentation von Menschen und Themen sowie massiver Lobbyismus für die Normalisierung geschlechtergerechter Sprachformen sind weiterhin nötig. (Obwohl die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Personenstandsrecht schon vier Jahre her ist und man sich in Deutschland gern auf das Grundgesetz, geltende Rechtsvorschriften oder Gerichtsurteile als einzige moralische Instanzen bezieht.)
Solange sich unsere Gesellschaft nicht von der Norm der Zweigeschlechtlichkeit im Denken und Handeln entfernt, bleiben geschlechtergerechte Ansprachen und Bezeichnungen mit Sonderzeichen oder ein neuer Begriff, der erst Teil der Alltagssprache werden muss, demnach auch schwere Sprache, unabhängig technischer Zugänge und Assistenztechnologien.
Barrierefrei, aber nur ein bisschen
Obwohl die Debatte um den Doppelpunkt also nicht nur für sehbehinderte und blinde Menschen relevant ist, sondern beispielsweise auch für Menschen, deren Erstsprache nicht deutsche (Laut-)Sprache ist oder Menschen, die Einfache oder Leichte Sprache brauchen, wird das Stören des Leseflusses (von sehenden heterosexuellen cis Menschen) weiterhin als zentrale Anforderung an geschlechtergerechte Sprachformen gestellt, damit potentiell im Zusammenhang stehende Barrieren werden untergeordnet. Die Entscheidung für mehr Barrieren kann man aus strategischen Gründen schon treffen, jedoch scheinen die Gruppen, die in diesen Überlegungen berücksichtigt werden, wenig heterogen.
Eindeutig widersprüchlich hingegen wird es, wenn einerseits für Stern und Unterstrich argumentiert wird, gleichzeitig aber nur Formen in Frage kommen sollen, die Vorlesetechnologien korrekt interpretieren (im Sinne von: mehr als 2 Geschlechter existieren), mindestens aber nicht das Verstehen des Textes unterbrechen sollen – wegen Barrierefreiheit. Was denn nun? Es gibt aktuell keine Form, die dieser Anforderung genüge tut. Am ehesten käme hier tatsächlich der Doppelpunkt in Frage, weil das Zeichen manchmal als Pause interpretiert, also Arbeiter … innen ausgesprochen wird. Ob die gewünschte Bedeutung den Rezipient:innen so vermittelt wird, steht auf einem anderen Blatt, siehe oben.
Absurd wird es für mich allerdings, wenn Stern und Unterstrich erst zur Disposition stehen sollen, wenn sich die Blinden- und Sehbehinderten-Community offiziell auf eine barrierefreie Form festlegt hat. Abgesehen davon, dass das keine Frage ist, die ausschließlich diese Menschen betrifft, wissen wir als Aktivist:innen eigentlich, dass innerhalb behinderter Communitys queere Perspektiven genauso am Rand stattfinden, wie in queeren Communitiys behinderte Perspektiven. Warum ruhen wir uns dann also in der Debatte um möglichst barrierefreie und geschlechtergerechte Sprachformen auf Stellungnahmen von Verbänden oder (angeblich) ausgebliebenen einstimmigen Forderungen aus?
Letzter Punkt: Barrierefreiheit, vor allem in der Kommunikation und Interaktion von Menschen, lässt sich heute nicht ohne Digitalisierung denken und umsetzen, in der Debatte um Sprachformen spielt das hingegen fast keine Rolle. Unternehmen und Anbieter werden nicht oder nicht ausreichend in die Verantwortung genommen, wenn es um technologische Standards und die Auslieferung und Darstellung barrierefreier Inhalte geht: Screenreader, Browser, automatisierte Spracherkennung, Spracheingabe, Endgeräte, Layout und Frontendprogrammierung, Screen- und UX-Design, etc.pp. Wir können uns noch so tolle Sprachformen ausdenken, wenn wir nicht dafür kämpfen, dass sie auch über die Medien und Standards vermittelt werden können, die Menschen heute zur Verfügung haben und nutzen, dann… oder allein nur, um die Frage zu stellen, was Medien und Standards zu mehr Barrierefreiheit und Geschlechtergerechtigkeit in Kommunikation und Interaktion beitragen können.
Leerstellen und Widersprüche zulassen
Der Doppelpunkt ist ein Vorschlag, um auf sprachliche bzw. Verständnis-Barrieren bei Stern und Unterstrich zu reagieren, ohne auf die altbekannten und ausschließenden Freund:innen „Beidnennung“ und „neutrale Bezeichnung“ zurückzugreifen. Es wird nicht der einzige Vorschlag bleiben. Ich glaube, dass es keine „einzige“ Variante für Sprachformen jenseits von Zweigeschlechtlichkeit braucht und bezweifle, dass es eine Variante gibt, die alle bruchfrei verstehen und in meiner gewünschten Bedeutung wahrnehmen. Wie also damit umgehen? So wie wir es schon immer gemacht haben: kreativ und strategisch.
Mir persönlich ist eine wahrgenommene „weibliche“ Pluralform lieber als vermeintlich neutrale Begriffe wie Arbeitende, die zwar barrierefreier vorgelesen werden, allerdings häufig wie das generische Maskulinum wahrgenommen werden. In meiner Erfahrung können „weibliche“ Pluralformen Irritationen auslösen, neutrale Formen eher nicht. Und wenn ich unbedingt clueless cis Personen mit meinem Sprechen educaten möchte, nehme ich mir den Raum, Dinge zu erklären. Deutlich zu machen, wen meine ich und warum. Ansonsten nutze ich bestimmte Sprachformen vor allem für jene, die ich meine. Und für mein eigenes „World-Building“, für die Normalisierung anderer Denk- und Vorstellungswelten in meinem Alltag, für das Beziehungen-Knüpfen mit potentiell Verbündeten, für das Verstandenwerden unter Menschen mit ähnlichen Vorstellungen davon, wie die Welt sein sollte, damit alle frei von Unterdrückung leben können. Zu häufig gehe ich dabei davon aus, dass es für all das keine Erklärung oder Erläuterung bräuchte, keine Übersetzung. Warum gehen wir eigentlich relativ selbstverständlich davon aus, dass Sternchen oder Unterstrich allgemein verständlich wären, auch ohne clueless Cissies?
Überhaupt könnten wir öfter Dinge erklären, Halbsätze hinterher schieben, einfachere Worte nutzen für das, was wir ausdrücken möchten. Uns häufiger jenseits unserer akademischen Blasen bewegen, in denen diese Aushandlungsprozesse nun mal mehrheitlich stattfinden. Das würde auch unsere Perspektiven in der Debatte um emanzipative, progressive Sprachformen bereichern.
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