Ein Buch, das ich in meiner frühen Kindheit, bis ich eingeschult wurde, sehr gerne gelesen habe, war Struwwelpeter. Ich weiß nicht, warum, weil ich es im Nachhinein betrachtet sehr gewaltvoll finde: Mit einem stark moralisch aufgeladenen Impetus wird Kindern vermittelt, was sie nicht sein dürfen oder tun sollten. Missachten sie die aufgestellten Regeln, widerfährt ihnen Leid oder sie sterben. Das Buch ist ein einziges Verbotsinstrument: Starr nicht dauernd in die Luft, zappel nicht am Tisch, iss immer deine Suppe auf, spiel nicht mit dem Feuer. Mach dich nicht über Schwarze lustig. Im Kontext der aktuell geführten (von weißen dominierten und rassismus-reproduzierenden in vielen Teilen) Debatte ist diese Geschichte besonders bemerkenswert.
Zwei weiße Kinder machen sich über einen Schwarzen Jungen lustig, der in kolonialrassistischer Tradition dargestellt wird (während Kinder und Lehrer „differenziert“ und aufwändig gezeichnet sind). Sprachlich bewegt sich die Geschichte zwischen N- und M-Wort. Zur Strafe taucht der Lehrer (mit erhobenem Zeigefinger) die weißen Kinder in ein großes Tintenfass, das mit schwarzer Tinte gefüllt ist. So laufen sie danach schwarz „angemalt“ in Blackface-Optik hinter dem Schwarzen Jungen her und sind nun „geächtet“ und „gerecht bestraft“ (Zitate von mir). Schwarz bedeutet also etwas Negatives. Der Junge übernimmt in der Geschichte sonst keine Rolle, außer eben einen Schwarzen Jungen zu repräsentieren. Offenbar benötigt er weder Kleidung, noch einen Namen, noch eine Handlung in der Geschichte. Er ist lediglich die Projektionsfläche. Der Lehrer stellt sich nicht etwa hinter den Jungen, der diskriminiert wird, sondern bestraft seine weißen „Schüler“, indem er sie „schwärzt“.
Spannend in diesem Zusammenhang ist das Buch „Spricht die Subalterne deutsch?„, das ich allen wärmstens empfehlen kann, die sich mit deutscher Kolonialgeschichte und seinen (auch strukturell wirkenden) Kontinuitäten bis in die heutige Zeit (z.B. Arbeitsmigrationspolitik) beschäftigen möchten. Der Titel des Buches zeigt eine Karnevalsszenerie in wahrscheinlich Deutschland und eine Person, die den Schwarzen Jungen aus Struwwelpeter darstellen soll – natürlich ist es eine weiße Person in Blackface. Und dahinter eine andere, die eines der Kinder mimt, die die rassistische Karikatur belächelt, auf sie zeigt. Drumherum Publikum, das zusieht.
Die Frage des Buchtitels bleibt in weiten Teilen eine ledliglich rhetorisch gestellte, denn sie lautet in vielen Fällen nein. Die Subalterne spricht nicht deutsch. Zumindest kein deutsch, das weiße Deutsche sprechen oder verstehen wollen. Das Andere wird nach wie vor fremdmarkiert und fremddefiniert. „Na dieser Schw… äääh ‚Farbige‘ da!“ Wenn schon auf die Hautfarbe des Gegenübers abgestellt werden muss (warum eigentlich? Ich denke, wir sind alle gleich?), dann bloß nicht Schwarz sagen, denn Schwarz ist schlecht. Dämonisiert, negativ aufgeladen. Vielleicht sogar rassistisch, denken einige. Dann lieber einen rassistischen Begriff als Bezeichnung benutzen wie M, N oder „Farbig“. Hältst du dich selbst etwa für ein „Bleichgesicht“ oder warum sind die Personen, zu denen unentwegt du die Differenz herstellen musst, „farbig“? N, M, „Farbig“, das sind Begriffe, die du kennst und mit denen du nichts Negatives verbindest – im Gegensatz zur Farbe Schwarz. Beide Seiten der gleichen Medaille – Rassismus.
Und jetzt wollen sie dir die Wörter wegnehmen und dich mit bösen sprechen_denken lassen. „Zensur! Hexenjagd! Political Correctness! Das Abendland! Die Kultur! Die Bücher! unsere Kinder!“ Wenn du damit fertig bist, rassistische Begriffe nochmal ganz schnell, ganz oft und in vielen Variationen zu wiederholen, bevor die Antirapocalypse hereinbericht, wird es Zeit neue Dinge zu lernen. Zum Beispiel, dass Schwarze Kinder nie wieder solche Geschichten über sich wahrnehmen und erleben wollen. Dass diese Schwarzen Kinder in deiner Nähe leben. Und mehr Wissen über Rassismus besitzen als du.
Und dass Schwarz nicht die Farbe der Bösewichte, der Abziehfolien deines Hasses und Rassismusverständnisses und nichts Negatives ist, sondern das politische W_Ort für Schwarze Menschen.
Mein Lieblingskartenspiel war ein Wortlern-Legespiel, bei dem weiße Kinder Tätigkeiten ausführen und die dazugehörige Karte durch Erraten des passenden Verbs gefunden wird. Im Spiel gab es eine besondere Karte, den „schwarzen Peter“. Eine schwarze Katze. Wer die zog, verlor sofort. Ich lernte also rassistisches Wissen als Kind – als gäbe es nichts Selbstverständlicheres auf der Welt.
Oma ist heute noch der Meinung, dass N korrekt sei „das sagt man doch heute noch so“ – als gäbe es nichts Selbstverständlicheres auf der Welt. Ja, Rassismus ist selbstverständlich. Der Feuilleton dieser Tage gibt ihr Recht.
Und die Subalterne? Wird zum Schweigen_Nicht gehört werden verdonnert. Per weißer Zensur äääh Meinungsfreiheit.
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3 Antworten zu „Struwwelpeter und die Subalterne“
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