Wenn ich in letzter Zeit über Klassismus lese, fällt mir auf, dass es auf einmal gar nicht mehr um die Verbindung mit anderen Analyse-Kategorien gesellschaftlicher Strukturierung und Ungleichheit geht. Gender, race, Körper, manchmal auch Klasse. Auch Machtverhältnisse scheinen auf Klassismus zusammengeschrumpft zu sein. Ich stelle fest, dass Klassismus häufig aus einer weißen, abled und studierten Position heraus kritisiert wird und sich häufig akademisches Wissen und Vokabular im Mittelpunkt der Kritik stehen. Oder das Bürgertum. Jedenfalls steht alles im Mittelpunkt der Kritik, was mit Wohlstand und Elitarismus assoziiert wird. Ich denke dann so, hmm… Was wird hier von welcher Position aus kritisiert und zu welchem Zweck? Oft lese ich Kritik und gewinne den Eindruck, es ginge nur um die Kritik der Kritik willen und ich habe dann die Frage im Kopf, wie in diese Kritik politisches Handeln eingeschrieben ist oder auch nicht. Es wird Sprache kritisiert, die unverständlich ist, aber es wird nicht eingeordnet, was das für Sprache ist und wo sie herkommt, wie sie sich einbettet in ein bestimmtes Herrschaftswissen (oder eben auch in Widerstandswissen), wie dieses Wissen und diese Sprache zustande kam. Ich frage mich dann weiter, wenn ich Kritik an klassistischen Wissensproduktionen oder Vokabular lese, wo da irgendwie die eigene Position bleibt, aus der kritisiert wird oder die Anbindung an Kontexte, das Situieren des eigenen Wissens, des eigenen Wissenserwerbs, der Blick auf Machtverhältnisse. Und ja, am Ende fehlt mir dann auch eine kritische Selbstreflexion dessen, was sich politische Praxis nennt. Oder ob es wirklich sein muss, dass auf einmal wieder alle Menschen und Positionen gleich gedacht und behandelt werden in der Kritik. Warum sich auf einmal in die Kritik eines Machtverhältnis ein fieser liberalistischer Grundgedanke einschleicht und jeder Hinweis auf die Gefahr der Gleichsetzung von sozialen Positioniertheiten mit „Spiel keine oppression olympics!“ vom Tisch gefegt wird.
Meine Herkunftsfamilie und mein gesamtes verwandtschaftliches Umfeld ist „klassisches Arbeitervolk“. Keine und keiner in meiner Familie hat studiert. Sonderlicher Reichtum war „uns“ bisher nicht vergönnt, große Geldsorgen blieben aber zum Glück aus. Seit mehr als zwei Jahren lebe ich unterhalb der Armutsgrenze, zeitweise sogar weit darunter. Ich lebe sparsam, es hält sich irgendwie aus. Große Sprünge kann ich nicht machen. Von Klassismus betroffen bin ich trotzdem nicht.
Meine Eltern wollten schon immer, dass ich studiere. Ich wäre gerne Lehrerin geworden, aber meine Mutter hat viel Zeit investiert mir das auszureden. Ich ärgere mich darüber nicht mehr, weil es mir andere Wege eröffnet hat und ich froh darüber bin, wo ich heute stehe. Nur dass der Wunsch in mir aufkommt, feministische Lehrerin an einer feministischen Schule zu sein. Na gut, vielleicht im nächsten Leben. Ich habe zwei Studienabschlüsse, mehrjährige Berufserfahrung und eine Berufsausbildung. Ich bin 27 Jahre alt. Überlegungen eine Dissertation zu beginnen und mich endlich in Theorien zu graben, die in meiner bisherigen Studienzeit immer viel zu kurz kamen, müssen der bitteren Realität weichen, dass ich mit Doktorintitel entweder für nahezu jeden Job überqualifiziert sein werde oder in der Uni hocken muss, wo ich jahrelang uninteressierten und antifeministischen Student_innen Einführungen in Gender Studies geben darf, unterbezahlt, mindestens 50h die Woche arbeite und keinen Sinn dahinter sehe, weil die Vorgaben so restriktiv und wenig darauf aus sind, dass Menschen in der Uni Widerstand lernen. Uni ist Selbstregierung, eine riesige Firma, die aus Menschen Maschinen macht, die nicht mehr hinterfragen, sondern nur noch reproduzieren und funktionieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich irgendwann eine Professur inne habe, in der ich relativ frei und selbstbestimmt lehren und forschen kann, ist mit einem Sechser im Lotto zu vergleichen. Vielleicht bin ich bis dahin 20 Jahre älter, verbittert, chronisch erkrankt und völlig aufgefressen von diesem Unibetrieb.
Seitdem ich mich mit einem Masterstudium wissenstechnisch spezialisiert habe, merke ich, wie sich meine Stellung innerhalb des Schichtengefüges verschlechtert hat. Mein Leben ist prekärer geworden, obwohl sich die Möglichkeiten, was ich arbeiten könnte, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen, vervielfältigt haben. Ich habe bereits 40h-Wochen geschoben und 20h-Wochen und genoss die Taxiheimfahrten nachts, weil ich zu faul war 20 Minuten in der Kälte auf die nächste Straßenbahn zu warten. Ich gab unendlich viel Geld für persönliches Amüsement aus, für Klamotten, ich führte ein dekadentes Leben, konnte mir alles kaufen, was ich wollte. Später nutzte ich mein Geld auch, um auf selbstorganisierten feministischen Veranstaltungen den höheren Eintrittspreis zu zahlen und zu spenden. Ich hatte es ja. Mittlerweile gehe ich kaum mehr auf solche Veranstaltungen, weil ich dann Geld spare, was ich brauche um meine horrend teure Krankenversicherung zu bezahlen. Ich jammere nicht. So ist das nun mal und ich kann es nicht ändern, ich liebe mein Leben so wie es ist und ich bin froh über jedes strukturelle Hindernis, das mir erspart geblieben ist. Ich fühle mich ausgefüllt und bin dankbar über den Zustand meiner relativ privilegierten sozialen Stellung, die es mir ermöglichte, Wunschstudiengänge zu studieren, ohne nervige Studijobs, die mich vom Wissenserwerb abhielten und mich nicht ausfüllten.
Ich bin Einzelkind und meine Eltern würden jeden Cent in mich stecken, den sie haben. Sie haben klar vom Mauerfall profitiert, vorher lebten wir in relativer Armut. Und auch wenn ihre Entscheidungen, die sie in diesen Jahren treffen mussten, vernünftige Entscheidungen waren und keine Entscheidungen, die ich mir leisten kann, nämlich: Ich mache, was ich will und nicht, was andere von mir erwarten, leben meine Eltern und ich ein sicheres Leben. Ich muss mich nicht sorgen um ein Dach über’m Kopf. Ich bin gut ausgebildet und könnte viele Jobs arbeiten. Meine derzeitige Lebenssituation ist eine bewusste Entscheidung meinerseits. Ich musste sie treffen, um meine Gesundheit zu schützen, die bedroht war und ist vom ständigen Leistungsdruck, von Heterosexismus, Homophobie und Frauenfeindlichkeit auf der Arbeit. Nicht, dass ich mit Leistungsdruck nicht umgehen könnte, ich arbeite sogar sehr gut unter Stress und stürze mich in Arbeit, wenn ich weiß, dass es gute Arbeit ist, dass sie Menschen weiterbringt, dass es mich erfüllt. Anweisungen eines chauvinistischen Chefs sind ein Gräuel für mich, weshalb auch die Entscheidung unterhalb der Armutsgrenze zu leben eine Entscheidung meinerseits war. Meiner Gesundheit zuliebe. Und trotzdem ist es eine Entscheidung gewesen, die ich mir leisten kann, eine vielleicht auch eher temporäre Lebensrealität, eine Lebensrealität, die ausgesucht bleibt.
Ich hab im Arbeitsamt gesessen und mir wurde der Hintern gepudert, weil ich Arbeitslosengeld I beantragt habe und nicht Hartz IV. Später, als ich Hartz IV beantragen musste, war nichts mehr mit Pudern, sondern eher mit Einschränkung meiner Bewegungsfreiheit und Behandeltwerden wie ein kleines Kind. Aufgrund meiner guten Ausbildung und Erfahrungen ließ mich das Amt zum Glück in Ruhe und wurde erst munter, als ich mich wieder abmeldete. Jobvermittlung können sie mit einer Akademikerin kaum leisten, ich bekam in 12 Monaten kein einziges Angebot. Ich erwartete es auch nicht. Ich nutzte die Zeit, um mir selbst Alternativen zu suchen. Heute gebe ich also Workshops und halte Vorträge, muss oft hinnehmen, dass Expert_innenwissen im geisteswissenschaftlichen, politischen und sozialen Bereich selten als solches anerkannt und honoriert wird. Das macht mich dann sauer, nicht wegen mir unbedingt, sondern weil es sich diese Organisationen eigentlich leisten könnten, ein kleines Vermögen für dich auszugeben, weil sie sich selbst nicht im Stande sehen, sich das, was du ihnen erzählst, selbst anzueignen und mit weiten leeren Augen in dein Gesicht blicken, während du dir vorne einen abmühst. Um dir dann später Klassismus vorzuwerfen, weil du Widerstandsvokabular benutzt, dass du in widerständigen Wissensproduktionen an der Uni und zu Hause angelesen hast und weiter benutzen willst, weil du an Wissentransfer in diesem Bereich hochgradig interessiert bist. Es macht mich auch sauer, weil sie da sitzen, keine Verständnisfragen stellen und sich stattdessen drüber beschweren, dass Feminismus so kompliziert sei. Menschen, die mir ähnlich sind. Studierte junge Menschen, vielleicht auch aus studierten Elternhäusern, völlig vollgepumpt mit neoliberalem Sprech von Leistung und Anerkennung, die buckeln nach oben und treten nach unten. Ideale von Gleichheit feiern und Politik für „den Bauarbeiter“ oder „die Kindergärtnerin“ machen wollen. Menschen, mit denen sie nie zu tun hatten oder haben werden. Studierte, die mir Klassismus vorwerfen oder nach Low-Version-Feminismus suchen, der sich innerhalb ihrer kleinen Bubble gut vermarkten lässt. Geschlechterdemokratie oder wie das heißt. Die Arbeit lieben, Leistungsdruck lieben und sich keine Gedanken machen müssen um Heterosexismus auf der Arbeit, weil sie bei jedem schlechten Witz mitlachen, weil sie wissen, dass es nicht so gemeint ist.
Ich ärgere mich auch darüber, dass diese Organisationen und Träger so sträflich mit Expert_innenwissen umgehen, weil ich dann selten unbezahlte Aufträge von autonomen Gruppen annehmen kann. Ich muss ja meinen Lebensunterhalt verdienen. Meine contra_klassistische Praxis äußert sich darin, dass mir Umverteilung wichtiger denn je geworden ist. Ich bin bescheiden erzogen worden, auch wenn ich die ersten Jahre mit ordentlich Zaster unterm Arsch erstmal die Sau rauslassen musste, auch um mich von den elterlichen Zwängen zu befreien. Mir ist viel Geld haben dennoch nicht wichtig, Ansprüche sind v_erlernbar. Weil es nicht wichtig ist, ob der Schuh glänzt, sondern wie sich Solidarität anfühlt und was daraus erwachsen kann. Ich teile gern und wenn ich irgendwann wieder einen Job mit geregeltem Einkommen haben sollte und noch immer in einer WG wohne oder vielleicht in einem feministischen Wohnprojekt, dann ist mein Geld auch das der anderen. Feminismus hat mich lernen lassen, dass materielle Denke und Hedonismus auch in anderer – solidarischer – Form lebbar ist. Oder vielleicht ein Gemeinschaftskonto, das nur für die Bespendung toller Projekte genutzt wird. Ich mache ehrenamtliche Tätigkeiten, auch aus Umverteilungsgründen. Sicherlich fehlt es da oft an der sich gut anfühlenden Ausbalancierung von Selbtsausbeutung, aber ehrenamtliche Tätigkeiten sind von immensem Wert. Es kommt darauf an, welche Tätigkeiten das sind.
Wenn ich die Möglichkeiten hatte, Wissen zu erwerben, das anderen verwehrt bleibt, dann leiste ich gerne unbezahlt Wissentransfer. Ich tue dies hier auf dem Blog, ich tue das bei der Mädchenmannschaft. Ich bekomme für diese Arbeit nichts, außer, dass ich mir dank eurer Spenden den Webspace leisten kann. Ich nehme, so oft es mir möglich ist, gering bezahlte oder unbezahlte Workshopaufträge wahr. Ich erkläre gern oft. Ich arbeite also sehr viel, weil es auch meine Verantwortung in meiner Position ist, dass sich bestimmte Zustände ändern oder zumindest etwas verbessern. Auch dann kommt wieder der Klassismusvorwurf um die Ecke, weil ich nicht immer Alltagssprache benutze. Ich denke mir dann so: Wieso soll ich ständig auf Alltagssprache zurückgreifen, die rassistisch, sexistisch usw geprägt und dominiert ist? Warum? Warum soll ich Wissen von Theoretiker_innen of color umlabeln, umschreiben und umsprechen, so dass es auch jede weiße Person begreift? Warum wird Wissen von Theoretiker_innen of color als „Fremd“wörter fremddefiniert? Von weißen? Was hat das noch mit Kritik an Klassismus zu tun? Warum ist etwas sprachlich nur antiklassistisch, wenn es sich in den Bedeutungsrahmen einpasst, der sowieso weiß, eurozentristisch, sexistisch geschrieben ist? Das ergibt für mich keinen Sinn. Ich sehe darin auch kein verantwortungsvolles rassismuskritisches Handeln, sondern Aneignung und Ent_Nennung.
Warum dreht sich Klassismuskritik so häufig um widerständige Wissensproduktionen, statt um Handeln im Alltag, um Nicht_Umverteilungen im Kleinen? Und warum beschweren sich weiße Personen aus Akademikerhaushalten, dass sie auf postkolonial verorteten Konferenzen das Wort „epistemische Gewalt“ nicht verstanden haben, aber die Zeit und Ressourcen aufbringen, darüber ganze Blogbeiträge zu verfassen, wie schlimm ausschließend und klassistisch das alles war? Während Wikipedia eigentlich die Antwort auf dem Silbertablett serviert? Warum wird hier Klassismus gegen Rassismus ausgespielt, während es in der Mehrheit von Rassismus betroffene Menschen sind, die sich mit „ethnischer Unterschichtung“, Sozialchauvinismus und der Bewertung ihrer nationalökonomischen Verwertbarkeit rumschlagen müssen, während du zu Hause vorm Rechner hockst oder für Konferenzen durch’s Land reist und dich mit Kritik an Sprache zufrieden gibst?
Warum wird widerständiges antisexistisches, antirassistisches Wissen zur Angriffsfläche von Klassismuskritik und nicht die sexistischen und rassistischen Wissensproduktionen irgendwelcher weißen Theoretiker, die hochtrabend von Gesellschaftsanalyse faseln, aber sich in ihrem kleinspießbürgerlichen Zuhause von ihrer Ehefrau die Hausschuhe ans Bett tragen lassen und Musik von Schwarzen ganz schrecklich oder nicht schöngeistig genug finden? Warum werden nicht vornehmlich linke Theoriemacker bei Seite genommen, die außer Namedropping keine politische Praxis haben und sich permanent antifeministisch und rassistisch äußern? Warum sind nicht die Gegenstand der Kritik, die Kritik an Klassismus permanent für ihre eigenen Abwehrreflexe instrumentalisieren? Und wieso gehst du mit einer Referentin nach ihrem Vortrag_Workshop_Diskussion in ein sündhaft teures Restaurant, wenn Klassismus angeblich das neue No-Go in feministischen Kontexten ist?
Bevor ich endgültig in die Polemik abdrifte, ob der Realsatire und Doppelmoral, die ich häufig erlebe, zurück zu den viel kritisierten Elfenbeintürmen: Ich halte den Ort Universität für denkbar ungeeignet, kritisches Denken zu erlernen und in widerständiges politisches Handeln zu transferieren. Der Ort Universität bleibt den meisten Menschen verschlossen. Universitäre Kongresse und Tagungen führen mich häufig zu der Frage: Für wen wird hier eigentlich Wissen produziert? Ich habe nicht selten das Gefühl, wenn ich weiße Theoretiker_innen sprechen höre, dass sich da nichts mehr um alltägliche Praxen des Widerstands dreht, ja dass diese nicht mal Gegenstand der Wissenproduktion und des Nachdenkens und Reflektierens sind. Ich erlebe, dass Wissen produziert wird, das sich super in ein neoliberales und kapitalistisches Setting einpasst, das sich eben gut verkauft. Oder es sind Wissensproduktionen, die sich so weit von der Realität entfernt haben, dass da wenige privilegierte Menschen über etwas räsonieren, dass sie weder selbst erfahren oder leben müssen. Meta-Ebenen werden gefeiert und Denkspiele initiiert um der Denkspiele willen. Denkspiele für die einen, Lebensrealitäten für die anderen. Wenn ich das erlebe, werde ich echt wütend. Wütend, weil Aktivismus und politisches Handeln so krass übergangen und unsichtbar gemacht werden, dass wirklich von einem Elfenbeinturm die Rede sein muss. In den Ort Universität sind Klassenverhältnisse seit jeher eingeschrieben. Und trotzdem kann der Ort Universität ein Ziel sein für alle, die von herrschenden Machtverhältnissen betroffen sind, und deren Geschichte ständig durch hegemoniale Wissensproduktionen ausgelöscht und unsichtbar gemacht wird. Der Ort Universität darf nicht aufgegeben werden als Ort der Kritik, als zu kritisierender Ort. Als Ort der Selbstermächtigung und als Ort des Versuches einer kritischen Gegen-Kultur.
Klar, wer es in die Uni geschafft hat, ist Teil der Machtmechanismen, kann sich nie vollends davon lösen. Allerdings: wer es nicht in die Uni geschafft hat, steht nicht automatisch außerhalb von Machtstrukturen. Es gibt nicht die Privilegierten auf der einen und die Marginalisierten auf der anderen Seite. Ich habe mit Feminist_innen gesprochen, die qua Herkunft und sozialen Umfeldern nie einen Zugang zu kritischen Wissensfeldern, ja zu ihrer eigenen Lebensgeschichte gehabt hätten, hätten sie nicht in der Uni ein Seminar besuchen können, das ihnen eine Sprache gegeben hat für all das, was sie er_leben und sind und all das, was sie positioniert in diesem komplexen und widersprüchlichen Machtgefüge. Ein Machtgefüge, das zeitgleich so brüchig und instabil ist, dass es sich ständig reproduzieren muss. Und jede_r von uns ein Teil dieses Reproduzierens ist.
Was kann ich also tun? Wie kann ich mich kritisch zu den herrschenden Verhältnissen positionieren, wenn ich doch dank Herkunft und Zugehörigkeit viele Möglichkeiten der neoliberalen Meritokratie positiv genossen habe und immernoch genieße? Was bedeutet es, sich kritisch zu Klassismus zu verhalten, wenn ich – von Auslandsaufenthalten und Sprachreisen einmal abgesehen – so hervorragend qualifiziert bin, wie es mir die Sachbearbeiterin beim Antrag zu ALG I einmal bestätigte? Wie ist widerständiges politisches Handeln in dieser Position möglich?
Ich denke also über Umverteilung nach. Ich verteile um, solange mir genügend bleibt, um Essen und Miete zu bezahlen. Ich denke kritisch über Konsum nach und handele. Ich denke nicht nur, ich kritisiere nicht nur, ich handele. Ich mache einfach. Ich übernehme Verantwortung und gestalte meinen Alltag anders. Ich versuche sensibel zu sein und mich nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen, wenn ich Dinge kritisiere, wenn ich selbst davon nicht betroffen bin. Ich versuche zu verstehen, dass meine Betroffenheit von Hetero_Sexismus nicht ausreicht, um mich als Marginalisierte zu jedem Thema und jedem Machtverhältnis gleich äußern zu können. Ich sehe, dass es einen Unterschied macht, ob ich selbst betroffen bin oder solidarisch sein will und dass auch mein Handeln und meine Kritik daher unterschiedlich sein müssen. Wenn ich mich für jedes Machtverhältnis als Betroffene aufspiele, dann ist das keine Solidarität, sondern Aneignung und Unsichtbarmachung von Kämpfen. Dann hat das auch nichts mehr mit Intersektionalität zu tun.
Ich gebe Wissen weiter, was ich erlernen konnte, durfte, ich lerne dazu, weil Fehlstellen mein Leben genauso bestimmen wie meine Versuche des widerständigen Lebens. Ich bleibe transparent, ich mache transparent, aus welcher Position heraus ich was kritisiere und warum. Ich versuche Klassismus intersektional zu denken und weigere mich gegen Klassismuskritik, die pauschal zwei Gruppen von Privilegierten und Marginalisierten konstruiert und gar nicht merkt, wie Weißsein und Androzentrismus in diese Konstruktion eingeschrieben ist und zur Norm erhoben wird. Ich versuche Zeit als Ressource kritisch einzuordnen und mich zu fragen, warum ich mich über Menschen aufrege, die Zeit und andere Ressourcen haben zum Wissenserwerb, während ich selbst Stunden damit zubringe (vor dem Laptop, in diesem Internet) diese Menschen dafür zu kritisieren. Statt meine Ressourcen anders zu nutzen und lieber über Handlungsmöglichkeiten nachdenke und diese dann auch umsetze. Ich fange mit Kritik bei mir selbst an.
Kommentare
2 Antworten zu „Wo ist eigentlich dieser Elfenbeinturm und in welchem Zimmer wohne ich?“
[…] Punkt: die Universität als Ort der gemeinsamen Geschichte, als Ort der (Selbst-)Ermächtigung, Politisierung, Radikalisierung. Katharina Oguntoye, Marion Kraft, Maisha Eggers und Peggy Piesche erzählten […]
[…] Sprache finden, als auf die Haut zu schreiben, dann soll es mir doch nur recht sein, wenn Menschen Wissenschaftssprache, Widerstandsvokabular oder Szene-jargon verwenden. Oder ohne Rechtschreibung und Grammatik schreiben. Ist mir schnuppe. […]