Als Martin Luther King erschossen wurde, hat sich die damals als Lehrerin arbeitende, weiße US-Amerikanerin Jane Elliott an einem Experiment versucht: Sie teilte ihre Schulklasse in Braun- und Blauäugige ein. Die Braunäugigen waren aufgerufen, die Blauäugigen schlecht zu behandeln. Ihnen zu unterstellen, sie wären ungebildet, ignorant, böse. Die Kinder spielten das Spiel mit und merkten schnell: Die Wirkungsweisen von Rassismus sind so banal wie um-sich-greifend. Jede_r kann rassistisch handeln.
Das „Augen-Experiment“ hat internationale Bekanntheit erlangt und Jane Elliott arbeitet nach wie vor als Antirassismus-Trainerin. Mit unterschiedlichem Erfolg. Was einerseits an dem Kontext liegt, in dem sie als Dozentin die Trainings durchführt und an ihrer Art und Weise dies zu tun.
Ich habe mir vor ein paar Tagen zwei Filme mit ihr angesehen. Eine Filmreihe mit dem Titel „How racist are you?“, die mensch sich unter folgendem Link in fünf Teilen anschauen kann. (Triggerwarnung für Rassismus-Denials und rassistische Äußerungen der Teilnehmer_innen)
Der andere Film hieß „The angry eye“:
Die Filme unterscheiden sich. Im ersten Film leitet Elliott eine Gruppe aus PoC und weißen Erwachsenen aus Großbritannien. Das Experiment misslingt, kaum eine_r der weißen Teilnehmer_innen lässt sich auch nur ansatzweise auf einen Erkenntnisprozess ein. Zumindest zeigen das die Szenen. Im zweiten Film leitet Elliott eine Gruppe aus PoC und weißen Schüler_innen aus den USA. Das Experiment ist erfolgreich.[ref]In „The Angry Eye“ weist eine weiße Probandin darauf hin, dass sie das Gefühl hat, im Training werde Rassismus als „schlimmer“ bewertet als Sexismus und Homophobie. Sie fühle sich deswegen unwohl und in ihren eigenen Diskriminierungserfahrungen zurückgewiesen. Elliott reagiert auf dieses Unbehagen, indem sie die weiße Frau und einen Schwarzen Teilnehmer nach vorn holt und erklärt, dass Menschen unterschiedliche Erfahrungswelten haben, die wir erst einmal akzeptieren müssen, ohne sie abzuerkennen. Die Oppression Olympics werden leider nicht thematisiert bzw. aufgelöst, stattdessen arbeitet Elliott mit stark verkürzten Differenz(feministischen)-Ansätzen. Sie geht nicht auf Intersektionalitätsaspekte ein und definiert Geschlecht lediglich in Gebärmutter(nicht)/Penisvorhandensein. Es wird also kein Machtverhältnis thematisiert, das kontextabhängig unterschiedliche Wirkungen hat und die ProbandInnen stets verschieden positioniert, sondern Elliott erklärt: Alle sind grundverschieden. Essentialismus galore!
Was allerdings dem „geschulten“ Auge klar wird: Dies ist ein Awarenesstraining für Rassismus. Kein „Lasst uns über all unsere Diskriminierungserfahrungen sprechen. Diese Gefühle, die die weiße (meiner Zuschreibung zufolge nicht heterosexuell begehrende) Probandin macht, hatte ich auch schon öfter. Oppression Olympics sind scheiße, aber hier gilt es zu unterscheiden, ob das nur meine Wahrnehmung ist, weil ich auch mal sagen will, wie diskriminiert ich bin und das Gefühl habe, das nicht zu „dürfen“, oder ob mein_e Gegenüber_in tatsächlich vorhat, Macht- und Unterdrückungsverhältnisse zu hierarchisieren, indem sie es konkret so benennt. Das ist nicht immer eindeutig zu trennen, aber ich denke, das ist der Preis, den wir zahlen müssen, wenn wir Diskriminierung auf der Interaktionsebene betrachten.[/ref]
Doch warum? Ich erkläre mir das so, dass in den USA aus der Historie heraus ein Grundwissen darüber herrscht, was Rassismus ist, wie und wo er sich institutionalisiert hat. Über Rassismus wird in den USA offener gesprochen. Rassismus ist kein Tabu. Was sich als Tabu herausstellt, ist die Thematisierung von weißen Privilegien und inwiefern das auch etwas mit mir selbst (als weiße Person) zu tun hat. Das ist jetzt grob vereinfacht, aber allein der Fakt, dass es dort große soziale Bewegungen gegeben hat, die bspw. in Europa weitestgehend ausblieben, macht schon einen Unterschied. Das heißt nicht, dass dort in postrace-Verhältnissen gelebt und gehandelt wird, im Gegenteil, allerdings wird Rassismus in den USA nicht grundsätzlich negiert.
Im Gegensatz dazu zeigen sich die Proband_innen aus UK in fast ausschließlicher Verteidigungshaltung. Die Übungen werden vielfach von weißen boykottiert und verfehlen so ihre Wirkung. Ein PoC erklärt, dass er seine „biracial“ Tochter niemals von der Schule abholt, weil sie in einer vollkommen weißen Schule „zum Glück“ noch als „weiß genug“ gelesen wird und er nicht möchte, dass sie Schwarz „wird“. Eine weiße Lehrerin(!) erklärt darauf hin, dass ihr Mann auch nicht in seinen legeren Klamotten zur Arbeit geht oder seine Tochter von der Schule abholt m( So geht es eigentlich die ganze Zeit. Die weißen Proband_innen halten sich für reflektiert genug zu erkennen, was Rassismus ist und behaupten, sie würden immer und überall intervenieren, wenn ihnen Rassismus auffällt. Rassismus hat mit ihnen persönlich nichts zu tun. Eine Derailing-Strategie jagt die nächste. Sie fühlen sich angegriffen, verletzt, ungerecht behandelt, von Elliott selbst, von den PoC im Raum.
Ich hatte mir beim Schauen des Films gedacht, dass die weißen zugänglicher wären, auch weil Elliott als weiße Autorität in Erscheinung tritt und es eigentlich hätte zu Bonding-Effekten kommen können. „Aaah, wenn es mir eine weiße erklärt, dann muss sie ja recht haben“. Was Elliott jedoch macht: Sie verhindert das, weil sie weiße Verteidigungshaltung kaum zulässt und stets am Sanktionieren ist, wenn es zu Privilege Denying und White Whining kommt. Mir imponiert dieser straighte Umgang sehr, ist er doch konsequente Solidarisierung mit Betroffenen. Er kann allerdings auch Rassismus verstärkend wirken. Nicht weil Elliott so handelt, wie sie es tut, sondern weil die weißen denken, ihnen würde kein Raum gewährt: Zum Lernen und zur Artikulation.
Wenn offenbar nicht einmal ein Grundbewusstsein darüber vorherrscht, was Rassismus ist und wie er sich äußern kann, dann ist es schwierig, weiße Proband_innen mit dieser Taktik etwas „beizubringen“ bzw. sie zum Lernen zu animieren. Ich gehe mal davon aus, dass das Experiment hierzulande ähnliche Effekte hätte. Es ist nicht Elliotts Aufgabe, Rassismus so zu vermitteln, damit auch der_die letzte weiße es endlich kapiert, schon gar nicht, wenn Betroffene im Raum sind, denn offensichtlich funktioniert ihr Experiment auch in anderen Kontexten. Aber es wird schwieriger, wenn wir uns in Kontexten bewegen, wo Rassismus nicht zum Alltagswissen gehört. Der Diskurs um „wir sind doch alle gleich“ ist offenbar in einigen Nationalstaaten derart hegemonial, dass er sich nur schwer aufbrechen lässt. Noch nicht mal dann, wenn bspw. anerkannt wird, dass sexualisierte Gewalt verachtenswert ist, herrscht Konsens darüber, dass dies bestimmte Ursachen hat, die auch mit mir selbst als vergeschlechtlichtes Wesen zu tun haben. Dass jeder Typenwitz über Frauen Ausdruck dessen ist, was sexualisierte Gewalt weiterhin legitimiert. Dass jedes Nice Guy Gejammere Ausdruck dessen ist, was sexualisierte Gewalt weiterhin legitimiert. Dass jedes Festhalten an Privilegien Ausdruck dessen ist, was Herrschaft weiterhin legitimiert.
Letztendlich geht es bei jeder Denial- und Derailingstrategie darum, ob ich das Gefühl habe, als guter oder als schlechter Mensch zu gelten. Handele ich rassistisch, bin ich schlecht. Ich will aber nicht schlecht sein, deswegen weise ich jeden Vorwurf der rassistischen Handlung von mir. Diese Haltung ist dermaßen selbstbezogen und ignorant, dass es schon fast wieder lächerlich ist, wenn diese Menschen behaupten, sie wären tolerant und am Gemeinwohl oder an Gerechtigkeit interessiert. Denn offenbar ist ihnen nur daran gelegen, ihre Komfortzone nicht zu verlassen.
Ich denke, dass da anzusetzen als erster Schritt wichtiger wäre, als weißen vor den Latz zu knallen, wie und wo Rassismus auftritt. Denn die Abwehrhaltung ist ein erstes Zeichen dafür, dass eigentlich das Verständnis dafür da ist, worum es gehen soll, aber der Egozentrismus noch den Riegel vorschiebt. Denn sonst würde ja mit Gleichgültigkeit reagiert werden (so meine Interpretation).