Das große Schwarze

Ich lief zu meiner Mutter ins Schlafzimmer und fragte sie, ob ich so gehen könne. Ob ich gut aussehe. Und zupfte mir dabei an der Weste. Sie nickte und lächelte und ging dann an einen Schrank, um eine schwarze Kette hervor zu holen. Damit sehe ich bestimmt noch besser aus, meinte sie. „So musst du das ummachen“, während sie mir die Kette über den Kopf um den Hals legte.

Ich ging zurück in mein Zimmer, schloss die Gürtelschnalle, rückte sie zurecht und sah an mir herunter. Ich fand mich gut gekleidet, sehr vornehm, nicht zu streng, schon gar nicht verkleidet, so wie ich es oft war, als ich noch jünger war und Sachen tragen musste, die ich nie anziehen wollte, wenn Verwandtschaft kam.

Es klingelte an der Tür, ich nahm meinen Mantel und warf einen letzten Blick in den Spiegel, fuhr mir durch die gegelten Strähnen und wischte mir mit den Fingerkuppen die unteren Augenlieder. Behutsam legte ich die Hosenenden an meine frischgeputzten Schuhe, drehte mich nach meiner Mutter um, die die Tür ins Schloss fallen ließ.

Im Auto wartete meine Oma, ich setzte mich zu ihr, nahm sie in den Arm und atmete schwer. Sie quälte sich ein Lächeln aus den Lippen und drückte meine Hand. Ganz fest. Es tat ein bisschen weh. Wir fuhren los.

Beinahe geschäftigt beobachteten wir die einfahrenden Autos, ich erkannte alle, die darin saßen. Als ich ausstieg, fühlte ich mich ein bisschen feierlich, wie auf einem Staatsbesuch. So muss sich Angela Merkel fühlen, dachte ich. Ich lief neben meinem Vater an den parkenden Autos vorbei, schüttelte Hände und nickte wohlwollend. Ich versuchte nicht zu ernst zu schauen.

Ich sah Menschen, die ich Jahre nicht gesehen hatte, war überrascht von herannahendem Stimmbruch, schütterem Haar und tiefsitzenden Falten. In der Kapelle stand sie dann da, diese Urne. Ein Foto, mehrere Kränze. Alles unwirklich. Zeremonien waren noch nie meins. Ich setzte mich neben meine Mutter, sie gab mir ein Taschentuch. Zur Sicherheit.

Während die Rede durch das kleine, aber hohe Gebäude hallte und von der ich wusste, das sie nichts beinhaltete, was nicht so stattgefunden hatte und doch ein paar diplomatische Sätze, erinnerte ich mich an unsere Fotos in den Familienalben. Milchige Bilder von Menschen mit Dauerwelle und Schulterpolstern, ich in kratzenden Strumpfhosen mit stolzem Blick über das Weihnachtsgeschenk. Die braune Anbauwand aus gespresstem Span mit diesem Jahresringe-Muster. Ein Grill, Bierflaschen und lachende Bierbäuche. Winterspaziergänge im vom Zerfall bedrohten Sozialismus. Goldig schimmernde Haut vor blauem Hintergrund, Ostsee. Badewannenspiele mit Cousin und Quietscheente, lieblos-weiße Kacheln, eine Durchreiche, Klettergerüste, mein erstes Dreirad, Luftmatratzen im naheliegenden See, Nackedeis und Erwachsene.

Ich erinnerte mich an meine Schulferien, den kleinen Tisch in der kleinen Küche des kleinen Gartens meiner Großeltern, das Heft mit Hausaufgaben, die Uhr, die 8 Uhr morgens zeigte und den strahlend blauen Himmel. An den kleinen Welpen, der süß war, den ich später hasste, weil er drahtiges Fell hatte, kläffte und bei Geburtstagen immer zwischen dem Essen rumsprang. Ich sah mich nicht um und niemanden an. Ich blickte nur auf diese Urne. Oder aus dem bunten Fenster. Eine Träne lief mir das Gesicht herunter. Ich nahm das Taschentuch. Zur Sicherheit.

Mein Vater musste seine Mutter stützen, sie hachte und weinte. Es war kaum zu ertragen. Ich versuchte mich in mir zu verkriechen und bewunderte den schönen Friedhofswald. Hänsel und Gretel.

Meine Oma konnte es kaum erwarten. Sie stürzte zum Grab, lies die Hände lange in den Körbchen mit Blüten und Sand, bevor sie beides hastig, aber bestimmt hinabwarf. Mein Vater musste sie erneut stützen. Und da wegholen. Ich versuchte, meine Tränen zurückzupressen. Es half nichts. Kein Taschentuch.

Während ich den Sand langsam durch meine Finger rieseln lies, hörte ich den Vögeln beim Singen zu. Hinter mir schluchzte es, ich musste es ausblenden. Es war so laut. Ich sah noch eine kurze Weile nach unten, in dieses Loch. Ich fing an zu weinen und ging zurück. Danach weinte ich weiter. Ich weine sonst nie öffentlich. Aber während ich mich so umsah und Tränen mein Gesicht herunterrollten, als seien es Pinguine, die eine Rutschpartie auf einem Eisberg veranstalteten, sah ich meine Cousins. Wie sie da standen, mit ihren dicken großen Kulleraugen mit dicken großen Kullertränen. Das letzte Mal weinten sie, weil sie bei der Kissenschlacht aus Versehen den Reißverschluss des Kissenbezuges ins Gesicht bekamen und ein bisschen bluteten, ich saß dann immer daneben, mit meinen zerzausten Haaren, meinem lose gewordenen Pferdeschwanz und meinen Sachen, die ich ungern trug, weil ich mir so verkleidet vorkam. Jetzt standen sie da, wischten sich den schwarzen Pony aus dem Männergesicht und ich beobachtete, wie eine Träne auf ihrem Unterlippenpiercing landete. Aus dem Anzug lukte ein Tattoo hervor. Ich fand sie süß. Ich fand sie schon immer süß. Ich war schließlich die Älteste von uns.

Ich blickte zurück zum Loch, meine Familie und ich machten Platz für alte Freunde. Tränen liefen immernoch, schon fast automatisch, es war mir egal geworden. Gedanken um meinen Mascara wollte ich mir später machen. Ein älterer Mann stand vor dem Loch und salutierte. Innerlich schüttelte ich den Kopf. Die NVA habe ich nie verstanden.

Die Körbchen mit den Blüten und dem Sand waren leer. Ich musste mir von unbekannten alten Menschen die Hand schütteln lassen, jetzt fühlte ich mich wieder wie Angela Merkel. Es war furchtbar. Sie brabbelten irgendwas von Beileid.

Als ich später auf dem Balkon meiner Großmutter stand und meine Augen sich freudig weiteten bei dem Anblick des orangenen Glimmens meiner ersten Zigarette des Tages, knöpfte ich meine Weste auf. Eine Befreiung. Ich führte angeregt Smalltalk, erntete verstörte Blicke für „Berlin“ und strahlende Blicke „Mensch, bist du groß geworden“. Mein Vater bekam Komplimente für „du hast aber eine schöne Tochter“.

Beim nachmittäglichen Spaziergang mit dem familiären Teil der Trauernden durch abgerissene Wohnblöcke, verwaiste Wiesen und rostige Klettergerüste hätte ich gern ein Foto von uns gemacht. Wie wir so nebeneinander laufen in unseren schwarzen, edlen Sachen, in denen wir überhaupt nicht verkleidet aussahen. Ich hätte es gern in das Familienalbum geklebt.


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Kommentare

4 Antworten zu „Das große Schwarze“

  1. Jana

    ich habe gänsehaut. sehr schöner text.

    die unwirkliche realität.

  2. Ja,
    sehr schön.

  3. KaJott

    Macht wirklich Gänsehaut.
    Sehr gut geschrieben.

    Wegen der Sache mit den Fotos… Auf der letzten Beerdigung auf der ich war hat tatsächlich jemand welche gemacht. Alle fanden es unangebracht. Aber Fotos sind ja nicht nur dafür da die schönen Dinge des Lebens zu zeigen. Da spalten sich die Meinungen wohl.

  4. […] mensch Kartoffeln schält, wie der Garten gewässert wird oder Matheaufgaben. Ich liebe meine Oma, ich liebte meinen Opa. Zwei Menschen, von denen ich viel für mich selbst gelernt habe, die mich früher am Wochenende […]

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